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Tradition des Wortes

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Praxis und Gestaltung heutiger Sonntagsgottesdien-ste erstarren vielfach zur bloßen Routine. Eine vertiefte Aufmerksamkeit im Hören und Lesen der biblischen Texte tut not.

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Praxis und Gestaltung heutiger Sonntagsgottesdien-ste erstarren vielfach zur bloßen Routine. Eine vertiefte Aufmerksamkeit im Hören und Lesen der biblischen Texte tut not.

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Niemand behauptet ernsthaft, die Evangelien nicht zu kennen; mag sein, daß man sich nicht mehr mit ihnen beschäftigt, oder sie wieder häufiger zur Hand nimmt, immerhin: Die Evangelien sind innig mit unserer Kultur verwachsen. Sprichworte und Redewendungen, charakteristische Bezeichnungen für paradoxe Umstände und Kurzbezeichnungen für Un-, Anders- und Rechtgläubige beziehen wir aus diesem Sprachschatz.

So wissen wir, daß durch die Lutherische Bibelübersetzung erst unsere Sürachtradition geformt wurde, wobei wir freilich vergaßen, daß nicht Luther wegen seiner Ubersetzung die Sprache formte, sondern die regelmäßige Lektüre der evangelischen Christen. Es war eben eine Lese-Tradition, die bis in unsere Gegenwart den Eindruck vermittelte, die evangelischen Christen seien „bibelfester“, was vielleicht im großen und ganzen stimmen mag.

Die katholischen Christen beziehen vorwiegend ihre Kenntnis der Evangelien teils aus dem Schulunterricht, teils aus den Lesungen der Sonntagsliturgie.

Eingangs soll gerade dieser Umstand betrachtet werden. Hier machte ich zwei Erfahrungen: die eine förderte die Einsicht, daß die zentralen Aussagen des Sonntags unterschiedlich vermittelt werden: einerseits werden die Lesungen insoferne gekürzt, daß aus dem „Angebot“ die alttestamentarische Stelle entweder herausgenommen wird oder unkommentiert (in der Regel) links liegen gelassen wird - hat das Alte Testament mit uns etwas zu tun? - andererseits wird — vor allem am Land — die Lesung Kindern überlassen, die mehr öder weniger radebrechend diese schwierigen Texte vorstammeln. Besser kann wohl etwas nicht zu einer Nebensächlichkeit werden.

Die zweite Erfahrung besagt, daß selbst mit Verstärkeranlagen der Vortrag des Evangeliums nicht eindringlicher wird. Sehr selten wird in der anschließenden Predigt der historische und aktuelle Kontext dieser Lesestücke erörtert.

Nun ist es nicht meine Absicht, Predigten zu kritisieren. Ich bin dazu übprgegangen, meistens für die Zeit der Predigt eigene Betrachtungsbücher zu Hilfe zu nehmen; nicht etwa aus Hochmut, sondern in der tiefen Uberzeugung, daß heilige Schriftsteller immerhin mehr zu sagen wissen. Warum diese sowenig in den Predigten Beachtung finden, wundert mich, doch denke ich darüber nicht mehr nach. Wahrscheinlich ist dort besonders stark die geistige Verarmung in der geistlichen Ausbildung merkbar.

Aus Dutzenden Gründen ist es wohl für den Leser der Evangelien nötig geworden, den Texten gegenüber jene Haltung einzunehmen, die man vielleicht aus dem Literaturunterricht erlernt hat: Evangelien, Apostelbriefe und das Alte Testament sind Literatur. Darüber ist der katholische Christ meistens entsetzt: Sie sind doch mehr! Wenn diese Texte aber mehr sind, warum behandeln wir sie schlechter als literarische Kunstwerke?

Das hätte zuerst die einfache Folge, daß man unter Umständen die ausgewählten Kapitel der Sonntagsliturgie zweimal liest,ähnlich schwierigen Gedichten. Man wird antworten, das bleibt jedem unbenommen. Dagegen wende ich ein, daß das Wiederholen eines Textes für Zuhörer eine besondere Wirkung hat und weiters das gemeinsame Hören der Ausgangspunkt der Verkündigung ist. Aus der Spannung von Gelesenem und Gehörtem ergibt sich erst die Eindringlichkeit der Aussagen.

Sollte man zur gleichen Meinung wie Kunsthistoriker gelangen, daß eben am Kunstwerk das Besondere ist, in vergleichbarer Weise auf unterschiedliche Betrachter zu wirken, auch wenn verschiedene Bildinhalte wahrgenommen werden, so scheint man in der Verkündigung dieser Texte pessimistischer zu sein: Sie bedürfen der Erklärung.

Obwohl betont wird, daß beispielsweise Christus nach dem Wortlaut der Evangelien eine gehobene Umgangssprache verwendete, die jedem zugänglich ist,

setzt sich ein Verkündigungs-Pessimismus durch, der auf der Uberzeugung fußt, die Texte erklären zu müssen. Das hat seine Berechtigung. Aber was ist denn wie zu erklären?

Deshalb hat sich in mir die Uberzeugung eingenistet, Altes und Neues Testament so zu nehmen, wie ich der besten Literatur zu begegnen versuche: Bereits in der formalen Gestaltung sind „ästhetische“ Kostbarkeiten vorhanden. So versetzen uns die „Schriftsteller“ der Evangelien in Situationen, führen uns in Umgebungen und in Umstände ein, auf deren Grundlage sich erst die inhaltlichen Besonderheiten ergeben. Würde man die konventionellen Methoden der Literaturkritik anwenden, bemerken wir nicht nur vier unterschiedliche Schriftsteller, sondern auch wesentliche strukturelle Formprinzipien, die erst die Folie für das Besondere des Erscheinens und Redens Christi abgeben.

Christus geht sichtbar durch den literarisch aufgebotenen Topos hindurch, gestaltet die beschriebenen Verhältnisse neu und gibt ihnen eine Wendung ins Uberzeitlich-Gültige. Literarisch gesehen, gibt es wohl keine besseren Beispiele für die Kunstform der Novelle. Haben wir jemals den Evangelisten die Überlegung gewidmet, in ihnen ausgezeichnete Schriftsteller anzuerkennen? In einer Zeit, in der es gelungen ist, komplizierteste philosophische Texte (Aristoteles, Piaton etc.) kompetent zu übertragen, kommt es in der Bibel-Ubersetzung zu philologischen Fehlern, die einen mangelnden altphilologischen Standard vermuten lassen. Sind wir also nicht mehr in der Lage, unsere eigenen Texte zu übertragen?

Ist an sich schon der Umstand problematisch, Teile der Liturgie durch Lieder zu ersetzen: so etwa das Gloria und Sanctus, um wieviel ist der Umstand bedenklicher, daß Texte dieser besonderen Qualität quasi auf das Niveau von Schüleraufführungen von Weltliteratur gelangen. Es wird nicht der Sinn der Liturgiereform ge-

wesen sein, im Geist einer Ökumene zwar eine „Protestantisie-rung“ (vor allem durch die Landessprachen) angesprochen zu haben, jedoch aus den Freikirchen-Bewegungen und reformierten Kirchen gerade die problematischesten Teüe zu übernehmen. Während die Psalmen zwischen Lesung und Evangelium keine Chance erhalten, „Gehör“ zu finden, obwohl diese in den Meßbüchern „angeboten“ werden und zu unserer biblischen Tradition zählen, kommt es zur Ausweitung des „Liedgutes“, dessen inhaltlicher und ästhetischer Wert mir außerordentlich dürftig erscheint.

Nun wird man hier die Proportion zwischen Lied und Text im Rahmen der Liturgie nicht abhandeln können; der Eindruck bleibt aber bestehen, daß die „religiöse Praxis“ generell unreflek-tiert nicht nur den Sonntags-Gottesdienst zur Routine verkommen läßt, sondern sich in beinahe grotesker Weise zwischen die Botschaft stellt. Das Lesen des Evangeliums erscheint mir darum eine Angelegenheit meiner Privatsache geworden zu sein, wo es aber doch grundsätzlich eine Gemeinschaftshandlung in der Kirche zu sein hat. Ich fordere die Priester auf, ihr Amt zu erfüllen! ,

Der Autor ist Dozent am Institut für Soziologie der Universität Wien.

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