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Traditionen aus dem Unbewußten

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Zum Thema „Verkündigung und Volksfrömmigkeit" der Missionsstudien-tagung im Juli in Brixen referierte der Autor über anthropologische und theologische Aspekte; nebenstehend ein Auszug.

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Zum Thema „Verkündigung und Volksfrömmigkeit" der Missionsstudien-tagung im Juli in Brixen referierte der Autor über anthropologische und theologische Aspekte; nebenstehend ein Auszug.

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Das Phänomen der Differenz zwischen einer offiziellen christlichen Verkündigung und der vom Volk, das heißt von der breiten Masse der Gläubigen gelebten Religiosität ist nicht neu und besteht seit den Anfängen kirchlicher Verkündigung. Der Apostel Paulus kommt nach Athen, sieht die vielen Tempel und Altäre der Griechen und lobt ihre Frömmigkeit. Der Altar des „Unbekannten Gottes" ist ihm ein willkommener Anlaß, den Athenern ihre „reli-

giöse Unwissenheit" vorzuhalten (Apg 17,23), ihren „religiösen Materialismus" zu kritisieren (Apg 17,29) und ein neues Gottes- und Weltbild heilsgeschichtlicher Christuszentriertheit vorzustellen (Apg 17,30-31).

An diesem Beispiel zeigt sich bereits eine Grundtatsache der christlichen Verkündigung, die meines Erachtens viel zu wenig beachtet worden ist. Die christliche Verkündigung kann sich nämlich nicht auf eine ursprünglich gewachsene, kulturell verankerte Religion bzw. Religiosität berufen, die sie innerhalb eines Kulturkreises oder auch einer Religi-onsphänomenologie sozusagen legitimieren könnte. Im Gegenteil, sie stellt immer einen sekundären Einbruch in eine bereits bestehende Religion bzw. Religiosität dar, der die gewachsene, kulturell abgesicherte Religiosität eines Volkes in Frage stellt, kritisiert und vom christologischen Ereignis her umgestalten will.

Dagegen spricht auch nicht die Tatsache, daß das Christentum auf dem Boden der jüdischen, alt-testamentlichen Religion entstanden ist und somit Elemente aus diesem Kultur kreis übernommen hat. Der Bruch mit dem Judentum ist genauso unausweichlich wie der Bruch mit dem griechisch-römischen Heidentum. Ebenso unausweichlich ist der Spott und die Ablehnung dieser Kulturen gegenüber der christlichen Verkündigung. In der Folgezeit der Ausbreitung des Christentums hat sich dieses Phänomen in jeweils anderen kulturellen Begebenheiten wiederholt, so daß es selbst in jahrhundertalten christianisierten Kulturen immer noch erkennbar ist.

Die offizielle christliche Verkündigung aber ist ein Produkt ihrer Institution, der römisch-katholischen Kirche, die sich ihrer Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums mit Hilfe der theologischen Wissenschaft und der theoretisch-praktischen Pastoral widmet. Der Ort, an dem die Theologie und Pastoral entstehen, ist die wissenschaftliche Akademie und das über die Rechtgläubigkeit wachende hierarchische Lehramt. Die Sprache der Verkündigung orientiert sich an den Deutungsprinzipien der Tradition und Quellen.

Gleichzeitig benutzt man aber die volkstümliche Religiosität, die zusammen mit ihrer Kultur das eigentliche kulturell-religiöse Leben hervorgebracht hat und auch weiterhin hervorbringt. Die wissenschaftlich-rationale Beschäftigung mit dem Menschen, seiner Kultur und Religion kann kein Leben hervorbringen. Sie braucht die volkstümliche Erfahrung des Lebens und die daraus fließende Interpretation von Gott und Welt.

Die Volksreligiosität lebt aus ihrem je eigenen Sitz im Leben

der jeweiligen Kultur, der verschiedenen Ethnizität oder Volkszugehörigkeit, der Geschlechterrollen im öffentlichen oder privaten Lebensbereich eines Volkes, der Erwerbstätigkeit einer Volksgruppe und ihrem spezifischen Ort auf dem Land oder in der Stadt.

Die Volksreligiosität lebt aus ihrer lebendigen Tradition der Familie, die als Ort der primären Sozialisation religiöse Wahrnehmungen, Motivierungen, Verhaltensweisen und Glaubensüberzeugungen vermittelt, die im Unbewußten der Person verankert werden. Sie werden nicht in erster Linie verbal-katechetisch vermittelt, sondern dringen in das Innere des Menschen durch Bilder, Sym-

bole, mythologische Elemente und Erzählungen, die mit den Figuren der Mutter und des Vaters identifiziert werden.

Auch diese Art und Weise der Tradierung religiöser Uberlieferungen ist eine „theologische Quelle". Es zeigt sich nämlich, daß trotz der großen Verschiedenheit der Symbole, Bilder und Figuren in den einzelnen Kulturen der Menschheit dieselben grundlegenden Elemente vorhanden sind, die die großen Fragen der menschlichen Existenz anrühren: der Tod, das Leben, die Fruchtbarkeit, das Weiterleben nach dem Tod, die Einheit und die Gemeinschaft, der Sinn des jetzigen Daseins, das Leid und die Not, die Schuld und die Strafe.

Diese Elemente bilden das unbewußte und symbolische Fundament der Volksreligiosität, die christliches Gedankengut über Jahrhunderte hinweg assimiliert und sich zu eigen gemacht hat. Heute ist der Wert der Tradierung kultureller und religiöser Elemente mittels Symbolen und Bildern durchaus anerkannt. Die Vermittlung, die hier geschieht, vollzieht sich auf einer ganzmenschlichen Ebene, die sehr viel tiefer in die Person hineinreicht als es eine abstrakt-verbale Vermittlung vermag.

Hier wird das Menschen- und Weltbild einer Person bzw. einer Volksschicht oder Volksgruppe geformt, das in seinem Inhalt nur schwerlich von einer sekundären Sozialisation verändert werden kann. Divergierende Weltanschauungen werden instinktiv mit Skepsis betrachtet oder abgelehnt. Abwehr und Protest gegenüber Neuerungen sind Mechanismen, die in der Natur der menschlichen Selbstsicherheit und ihrer Verteidigung liegen.

Die Volksreligiosität ist auch eine Antwort des Laien auf Vorgaben, Verordnungen und Verhaltensforderungen, die von einem elitären Kreis religiös „Wissender" an religiös „Unwissende" weitergegeben werden. Wenn der Laie nicht weiß oder nicht einsehen kann, warum dies oder jenes entschieden wird, sucht er sich instinktiv einen Raum, den er kennt und einsehen kann. Seine Symbole und Riten mögen vielleicht zu einer gewissen Passivität in Sachen Weltveränderung verleiten, können als Entfremdung und Aberglauben abgetan werden, besitzen aber im Verborgenen einen Protest gegen die bestehenden Verhältnisse und die Vorstellung einer veränderten, besseren Welt.

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