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Tränen und Licht

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Wir feiern Weihnachten, aber in mir weihnachtet es schon lange, denn New York erstrahlt seit Ende November in zartem Lichterglanz. Trotz Frühlingstemperaturen um die Mittagszeit — die Metropole liegt auf der Höhe Neapels — bimmeln bepelzte Weihnachtsmänner straßauf straßab, wenn sie nicht in ein Loch, einen offenen Kanalschacht oder sonst was fallen, was dort leicht möglich ist, denn die Straßen der Millionenstadt sehen aus wie nach einem mittleren Erdbeben. Trotzdem kommt Stimmung auf, sogar in den Warenhäusern, wo Kinder mit roten Backen schreiend durch die Räume toben.

Kein Wunder, bei den Preisen. Ein Riesenelefant kostet siebzigtausend, ein Kinderauto mit Extraausstattung etwa hundertdrei-ßigtausend Schilling. Was fahren da die Eltern, muß man sich fragen. Es ist nahezu beruhigend zu hören, daß eine Mutter ihren Sohn mit einem „That is very expen-sive“ aus der Spielwarenabteilung hinauszerrt.

Wie werden die Armen, die Ausgegrenzten den Heiligen Abend verbringen? In einer Kirche sah ich im Vorraum zwölf Betten mit Decken und Polstern für Obdachlose bereitstehen. Zweihunderttausend solcher Personen leben in der Zwölfmillionenstadt, oder, besser gesagt, so viele werden offiziell zugegeben. Die Heüs-armee sammelt, in der Kathedrale steht ein eigener Opferstock für die Armen. Zu wenig, zu wenig auch, um echte Festeslaune aufkommen zu lassen.

Ich besuche eine Synagoge — nicht orthodox, die Gemeinde ohne Kopfbedeckung, Männer und Frauen sitzen nebeneinander in den Bänken. Modern? Oder nur mehr oberflächlich? Ich weiß es nicht. Alles ist genau so wie bei uns, nur eben ganz anders: faszinierend und fremd zugleich.

Ich wandere ruhelos durch die

Straßen — suche ich schon jetzt den Weihnachtsfrieden? Irgendwo muß es doch einen Platz der Besinnung geben, einen Ort des Sich-Findens, der Meditation oder der Andacht. Wer fremd ist, kommt schwer zu diesem Ziel. Es muß furchtbar sein, Emigrant zu sein, irgendwo leben zu müssen, nur um überleben zu können. Für viele waren und sind die USA der lebensrettende Hafen gewesen. Dankbarkeit ist angebracht. Trotzdem, ich kann die verstehen, die mir nach fünfundvierzig Jahren in New York noch immer von „zu Hause in Wien“ erzählen.

Mein Vortrag in der George-town-University löst unerwartet heftige Emotionen aus. Tränen und Heimweh werden nicht verborgen. Alte Leute erzählen von ihrer Jugend, von Wien, Graz, Czernowitz und von Auschwitz. Es ist kein Haß mehr zu spüren, nur unsagbare Traurigkeit — gerade jetzt, wo Weihnachten vor der Tür steht. Lebt die Wessely noch? Ich hab noch den Aslan gesehen ___ Ist das Cafe Kremser noch da? Welche Straße war das, wo der H2 gefahren ist? Hände greifen nach meinen Händen, drücken sie, wie wenn sie ein Stück Heimat umspannen möchten. Sie haben nicht mehr viel Kraft, diese Hände, aber ihr Druck schmerzt mich sehr, tut beinahe weh.

Ich nehme den Druck mit, hinaus aus dem Saal, ich spüre ihn nicht mehr an der Hand, ich spüre ihn im Herzen.

Und auf einmal habe ich das weihnachtliche Gefühl gefunden, ich spüre es ganz stark, es gibt keinen Zweifel mehr. Das Gefühl verlangt den Frieden, die Vergebung und die Hoffnung auf eine vernünftigere Zukunft. Friede den Menschen auf Erden - allen, auch denen, die oft nicht guten Willens sind? Die Gesichter leuchten trotz der matten Augen, in denen ich Tränen sehe. Auch in meinen Augen spüre ich sie. Und plötzlich wird es leicht, zu glauben, denn durch die Tränen leuchtet ein Licht.

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