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Traumatisiert fürs Leben

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Der Durchschnittsbürger wird mit sexuellem Mißbrauch von Kindern nur durch gelegentliche Prozeßberichte konfrontiert. Manche kommen auch anders mit dem Phänomen in Berührung: über Produkte der Pornoindustrie. In beiden Fällen wird die wirkliche Tragödie des Geschehens nicht bewußt.

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Der Durchschnittsbürger wird mit sexuellem Mißbrauch von Kindern nur durch gelegentliche Prozeßberichte konfrontiert. Manche kommen auch anders mit dem Phänomen in Berührung: über Produkte der Pornoindustrie. In beiden Fällen wird die wirkliche Tragödie des Geschehens nicht bewußt.

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Vor kurzem stand in Klagenfurt im Rahmen eines Symposions über Gewalt in der Familie auch der sexuelle Mißbrauch' von Kindern zur Diskussion. Die Kinderneurologin Heide Dellisch referierte über die aktuelle Aufarbeitung in der Wissenschaft und ihre Erfahrungen am Landeskrankenhaus Klagenfurt. Insbesondere über die psychischen Folgen für die Opfer und den persönlichen Hintergrund der Täterfamilien.

Nach Schätzungen gibt es in Österreich zwischen 10.000 und 25.000 Fälle von sexuellem Mißbrauch von Kindern im Jahr. Nur ein Bruchteil kommt vor Gericht. Es handelt sich um Formen des Inzest, da sie überwiegend im familiären Rahmen stattfinden. Am bekanntesten ist der Vater-Tochter-Inzest. Geschwisterinzest dürfte jedoch nicht weniger häufig sein, gilt jedoch als noch größeres Tabu. Immer handelt es sich um den Mißbrauch einer Vertrauenssituation.

Im allgemeinen dauern solche inzestuösen Beziehungen drei bis fünf Jahre. Sie beginnen oft schon ab dem achten Lebensjahr. Die Täter rechtfertigen sich häufig damit, daß es für die Kinder etwas Angenehmes ist. Tatsächlich zeigen die Erfahrungen der Neurologin aber, daß es meist zu schweren negativen psychischen Folgenkommt. DerLeidenswegendet keineswegs, wenn sich das Kind an die Öffentlichkeit wendet. Eine entsprechende „Aussage" wird von der Familie als Verrat nach außen empfunden: Das Kind bringe Schande über die Familie.

Bleiben die Opfer vor einer Gerichtsverhandlung in der Familie, so ziehen sie ihre Aussage unter dem Druck ihrer Umgebung meist wieder zurück. Meistens wiederholt sich dann alles mit noch schlimmeren Vorzeichen. Verweigert sich das Kind aber endgültig, so wird häufig versucht, es in ein Heim zu stecken.

Typisch für jeden inzestuösen Mißbrauch ist eine gestörte Elternbe-ziehung. Der Täter, meist der Vater, ist im allgemeinen selbst ein unsicherer Mensch, der versucht, sich die Familie autokratisch unterzuordenen. Oft wagt er es nicht, seine sexuellen Bedürfnisse an seine Frau heranzutragen und weicht auf das Kind aus.

Oder die Gattin verweigert sich ihm und trägt so dazu bei. Meist nimmt die Mutter den Inzest duldend hin -aus Angst und Abhängigkeit. Es gibt aber auch Fälle, in denen sie den Vater mit seiner Verfehlung erpreßt.

Die Inzestfamilie ist vielfach durch große Selbstisolation nach außen gekennzeichnet. Meist bahnt sich der Inzest über mehrere Generationen an. Psychologisch handelt es sich bei der Tat um die Überbrückung eines narzistischen Einbruchs, der in dieser Familiensituation seinen Boden hat. In deren Gefolge sinkt das Selbstwertgefühl des Täters weiter, was er durch neuerliche Wiederholung zu kompensieren versucht.

Die Folgen sind für das Kind gravierend. Der gesamte Reifungsprozeß wird schwer gestört. Identitäts-findung, Orientierung an der Werthierarchie der Gesellschaft, Ablösung von der Familie bereiten unlösbare Probleme. Sexuell mißbrauchte Kinder neigen später häufig zu Suchtverhalten (Alkohol, Drogen). Neben einer Vielzahl neurotischer Prägungen ist es in Einzelfällen angezeigt, die Ursache von Schizophrenie in der Traumatisierung durch das Ereignis zu sehen.

Der sexuelle Mißbrauch von Kindern ist als psychosoziales Problem ein Tabu und insofern auch von allen Institutionen vernachlässigt. Unklar ist, inwieweit eine bestimmte gesellschaftliche Situation auf die Häufigkeit Einfluß hat. Diese Handlungen, darauf verweist auch Dellisch, hat es immer gegeben. Die Liberalisierung der Sexualität hat nicht zu einer Ent-tabuisierung beigetragen. Es ist jedoch auch kein negativer Zusammenhang zu sehen, daß Täter dadurch besonders „motiviert" werden.

Eindeutig ist das autoritäre Bezugsystem des Täters in der Familie. Die Verfügungsgewalt über das Kind wird zur moralischen Rechtfertigung der Tat.

Für eine demokratische „freie" Gesellschaft von heute ist dieses Kainszeichen eine elementare Herausforderung. Wo sonst hätte sie einen Sinn, als die Entwürdigung des Menschen zu verhindern?

Das soziale Spannungsfeld dieser Handlungen ragt in die Politik, auch wenn es die Verantwortlichkeit jedes einzelnen betrifft. Im Zusammenwirken persönlicher Wertautoritäten wie Gewissen, soziale Bindungen, religiöser Glaube hat die Politik eine besondere verbindende Funktion. Sie muß den Wert des Lebens in der Verantwortung des Bürgers verdeutlichen. Mit der regelmäßigen Erhöhung der Kinderbeihilfe ist das nicht getan.

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