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Digital In Arbeit

Trockene Küßchen für Hanno

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Sie hat alles genau geplant, hat sich die freien Tage zwischen den Jahren exakt eingeteilt. Nur so geht es: detaillierte Organisation während der Bürozeit, Einteilung der Haushaltsarbeiten, minutiöse Planung der wenigen Stunden, die sie mit den Kindern verbringt. Da darf nichts dazwischenkommen, kein über die ihr gesetzlich zustehenden fünf Sonderurlaubstage im Krankheitsfall der Kinder hinausgehender Zeitraum, kein abends verlegter Regenschirm, dessen aufwendige Suche morgens den Weg zum Kindergarten hinauszögern könnte. Nein, Umstände und die Kinder müssen sich ihr anpassen. Es ginge sonst an ihre Sollzeit im Büro, die ihr trotz s Gleitzeitregelung keinen freien Spielraum läßt. Kindergartenschließzeiten lassen keine Manöver zu. Es muß wie am Schnürchen gehen, es geht auch wie am Schnürchen.

Die Zwillinge haben sich am Weihnachtsbaum zu schaffen gemacht, ihn heftig gerüttelt und geschüttelt. Die Fichtennadeln haben sich gelöst und sind auf die Erde gefallen. Sie stecken auch im Strickzeug der Kinder. „Ein bißchen lieb", sagt sie, „ein bißchen lieb könntet ihr schon sein." Aus dem Besenschrank in der Küche holt sie den Staubsauger, dreht die Teppichbürste heraus und saugt die Kinder mit dem bloßen Rohr ab. Die Mützenbänder fliegen in den Schlauch, sie hat Mühe, die Schleifen herauszuziehen. Die Kinder lachen.

In solchen Momenten hat sie die Gabe, abzuschalten und mit Tommi ein Gespräch zu führen. Sie stellt ihn sich irgendwo oben vor. Das hat ihr geholfen. Oben, denkt sie, wird er schon seinen Platz gefunden haben, sieht auf uns herab und lächelt. Den Gedanken an ihn unter der Erde hat sie verdrängt. Die ersten Tage nach der Beerdigung ist sie durch die Straßen gelaufen und hat den Kopf gesenkt gehalten. Immerzu hat sie die Erde ansehen müssen. Es hat sie direkt hinuntergezogen. Aber eines morgens hat sie sich gesagt, daß er gar nicht mehr da unten sei. Sie hat sich in einen alten Kindertraum geflüchtet, und es hat ihr geholfen. Sie hat ihren Kopf heben und die Kinder anlächeln können. Um den Friedhof hat sie einen großen Bogen gemacht. „Der Papi", hat sie zu den Kindern gesagt, „sieht uns immer zu. Von oben herab schaut er und freut sich, wenn er uns sieht." Und die Kinder haben genickt.

Mach dir keine Sorgen, sagt sie, es läuft doch, sicher, alles ist in Ordnung. Sieh, wie die Kinder lachen. Und bald sind sie größer, dann rütteln sie nicht

Dagmar Chidolue, 1944 in Ostpreußen geboren, wuchs in Gütersloh auf. Sie lebt jetzt in Frankfurt. Erste Arbeiten: Kinderbücher, dafür den Hans-im-Glück-Preis.

mehr am Weihnachtsbaum, und Pipi machen sie auch von allein. Mach dir keine Sorgen. Uns geht es gut. Das Schwitzen auf der Nase wird auch aufhören, ich versprech dirs. Bestimmt, das hört auch auf. Ich habe alles geplant. Es läuft doch.

Die Kinder dürfen den Staubsauger ausmachen. Und weil jeder ausdrücken will, wird er ein zweites Mal angeknipst. „Jetzt hat jeder gedrückt", sagt sie, „so hat alles seine Ordnung."

„Ich habe ausgemacht", sagt Mischa.

„Ich habe auch ausgemacht", sagt Hanno.

„Beide habt ihr ausgemacht", sagt sie. „Und Mami hat angeknipst", fügt Hanno hinzu. Mischa sagt: „Bäh."

„Und die Sparbücher müssen wir mitnehmen", erinnert sie. „Für unser Taschengeld und für die Zinsen. Für

eure Zinsen und für unsere Zinsen. Heute lassen wir uns Geld schenken. Wir lassen heute alles machen, weil wir Ferien haben und den ganzen Tag zusammen sind, weil sie in der Stadt Strumpfhosen billig verkaufen und weil immer noch Weihnachten ist. Eigentlich."

Die Kinder sind artig. Sie geben die Hände. Einer geht links von ihr, der andere rechts. Sie laufen in die Stadt. Ihre Riementasche rutscht beim Gehen von der Schulter und drückt auf ihr Handgelenk. Sie bleibt stehen und hängt die Tasche über den anderen Arm. „Einmal bekommt Mischa die Taschenseite und einmal Hanno", sagt sie. Die Kinder sind zufrieden.

„Vom Sonderangebot", sagt sie im Warenhaus, als sie nach den Strumpfhosen fragt. „Größe fünf bis sechs".

„Für die beiden?" fragt die Verkäuferin. „Da reicht doch Größe drei bis vier. So groß sind die doch nicht", sagt die Verkäuferin.

„Sie brauchen Größe fünf bis sechs", versucht sie. „Wegen der Wäsche. Die gehen ein."

„Die können gar nicht eingehen", beteuert die Verkäuferin. „Es ist pflegeleichtes Material, die können gar nicht eingehen." „Sie gehen ein", beharrt sie. „Bei mir gehen sie ein. Immer gehen sie nach der Wäsche ein. Da ist das Material egal. Sie gehen immer ein."

Die Verkäuferin ist gereizt. „Na, Sie müssen es ja besser wissen."

Wieder schwitzt sie auf der Nase, nimmt aus der Manteltasche ein Baumwolltuch und tupft die Tropfen ab.

„Hast du was?" fragt Hanno. „Nein", sagt sie, „was soll ich denn haben?"

„Was ist denn, Mami?" fragt Hanno.

„Rote oder blaue?" will sie wissen. „Wollt ihr rote oder blaue?" „Rote und blaue und grüne", sagt Mischa, „und gelbe und rote und blaue."

Hanno will alles in rot. Sie trägt die Strumpfhosen zur Kasse, drei Farben für Mischa, die roten für Hanno. Vor dem Bezahlen überlegt Hanno es sich doch noch anders. Auch rote und blaue und grüne will er. „Wie Mischa."

.Jetzt bekommt einer die Hand mit der Plastiktüte und einer die Hand mit der Tasche", bestimmt sie draußen. „Bis zur nächsten Straßenecke, dann wechseln wir.

„Ich kann allein tragen", meint Hanno.

„Die Tüte ist zu schwer", sagt sie. „Kann ich", beteuert Hanno.

„Sie ist zu groß", sagt sie. Hanno weint. Sie gibt ihm die Tüte. Hanno läßt sie über den Bürgersteig rutschen. „Sie

ist zu groß", sagt sie. „Wirst noch wachsen, dann hilfst du mir." Sie bückt sich. Mit ihrem Taschentuch putzt sie ihm die Nase. „Beeilung", sagt sie. „Wir müssen noch zur Bank. Wir müssen noch viel erledigen."

Es ist voll in der Bank. Der kleine Filialraum faßt kaum die Menschen, die ihr Geld abheben oder Schecks einreichen. Als ob über Weihnachten jeder ein Vermögen verdient hätte.

Sie läßt die Kinder sich vor einen der kleinen Kundenschreibtische setzen. Von den ausliegenden Formularen nimmt sie einige rosa und gelbe Blätter. „Schön schreiben", sagt sie, gibt Hanno den an einer Kette hängenden Kugelschreiber. „Erst der eine, dann der andere. Immer abwechseln. Mami steht dort an der Kasse hinter den Leuten." Die Kinder sehen sich um. Sie nicken. Hanno beginnt zu malen.

In der langen Reihe der Wartenden bewegt sie sich nur langsam auf den Kassenschalter zu. Immer wieder blickt sie sich um, schaut nach den Kindern. Als sie schließlich direkt am Schalter steht, legt sie ihren Scheck hinein. Und die Sparbücher: Die Taschengeldkonten der Kinder und ihre Notgroschenbücher. „Das nehm ich mit", sagt sie, „und da hätte ich gern die Zinsen gutgeschrieben."

Der Kassierer holt sich ihre Unterlagen aus der beweglichen Ablage. Er blättert die Bücher auf, muß am Terminal warten, bis sein Kollege, der einen zweiten Schalter bedient, mit dem Eintippen der Daten fertig ist. Dann schiebt er ihre Sparbücher in den Drucker, gibt die Daten aus der Vorlage in den Terminal. Es dauert seine Zeit.

Hinter ihr wird man unruhig. Sie spürt, daß man sich gegen sie auflehnt. Die Kinder werden laut, streiten sich um den Kugelschreiber. „Jetzt Mischa", ruft sie. „Hanno, laß Mischa einmal dran." Sie hört Hanno maulen.

Der Eindruck der Zinsgutschriften in ihre Bücher dauert an. „Es ist die Höhe", sagt eine Frau hinter ihr. „Das zwischen den Jahren, als ob das nötig wäre."

Sie atmet tief durch, lächelt den Kassierer an, der stur die Zahlen eingibt. Sie fühlt sich hilflos.

„Eine Unverschämtheit bei diesem Betrieb", schilt die Frau hinter ihr. „So viel Sparbücher, und das zwischen den Jahren. Da läßt man keine Zinsen gutschreiben. Das macht man mitten im Monat. Irgendwann einmal. Im Januar oder Februar. Das hat Zeit. Hier wollen alle Leute dran. Zwischen den Jahren."

Sie sagt sich, daß sie ruhig bleiben müsse. Sie verlagert ihr Gewicht von

einem Fuß auf den anderen. Der Kassierer steckt die Sparbücher nacheinander in den Terminal. Zwischendurch muß er seinen Kollegen an das Aggregat lassen. In dieser Zwangspause schaut er gelangweilt über die Köpfe der Wartenden hinweg.

„Das macht man, wenn die Bank leer ist", beginnt die Frau hinter ihr wieder. „Sie haben doch Zeit. Sie sind doch Hausfrau. Sie haben doch Kinder. Den ganzen Tag lang gehen Sie spazieren."

Da dreht sie sich um, sieht in ein weißgeschminktes Gesicht mit clownhaft wirkendem, rotem Lippenstiftmund. Was soll ich jetzt sagen, denkt sie, betrachtet das gut frisierte Haar der Frau. Ich bin wütend, denkt sie, ich möchte ihr das bleiche Gesicht zerkratzen, das zu schminken sie mehr Zeit gekostet hat, als ich je für Spaziergänge mit den Zwillingen zur Verfügung hatte. Was soll ich sagen, muß ich ihr mein Leben erklären, alles, das mit Tommi und den Kindern und den zwei freien Tagen?

Wieder sieht sie den Kassierer an. Die kennen mich doch, denkt sie, alle kennen mich, sehen meine Gehaltsüberweisungen, wissen, daß ich berufstätig bin, von morgens bis abends, wissen, daß ich mir alles einteile, ich bin ordentlich und solide, ich versuche, zurechtzukommen. Warum sagen sie ihr das nicht, daß ich das großartig mache?

Der Kassierer steckt die letzten Bücher in das EDV-Gerät, auch ihren Scheck zur Freigabe der Auszahlung.

Sie dreht sich wieder um. „Mischen Sie sich doch nicht in Angelegenheiten, die Sie nicht beurteilen können", sagt sie ruhig. Sie wartet auf weitere Bemerkungen der Frau, hat sich ihre Antworten bereitgelegt, richtige Schimpfwörter, steigerungsfähig, ganz unflätige Ausdrücke. Ich tu's, sagt sie sich, wenn sie den Mund aufmacht, ich tu's. Sie wartet einige Sekunden, die Frau blickt auf ihren Mund, scheint's, starrt unbeweglich auf ihre Lippen.

Sie wendet sich um. Der Kassierer schiebt ihre Bücher unter dem Sicherheitsglas hindurch, zählt die Geldscheine ab. Sie steckt alles wortlos in ihre Tasche.

Zu Hause öffnet sie den Kindern eine Dose Ravioli. Sie sieht zu, wie die Zwillinge die warme Mahlzeit löffeln, wischt den tropfenden Tomatensaft mit dem Küchentuch von ihren Mündern. „Wo wollt ihr schlafen?" fragt sie.

„Mamis Bett, Mamis Bett", singen die beiden.

Sie zieht den Kindern die Latzhosen aus, legt sie mit Strumpfhosen und Pullis in ihr Bett. Das Kopfkissen hat sie dick und weich geschüttelt. Sie küßt die Kinder auf die Stirn.

„Trockenes Küßchen?" fragt Hanno.

„Ganz trockenes Küßchen", sagt sie, schließt die schweren Vorhänge.

Im Wohnzimmer setzt sie sich mit dem Rest der aufgewärmten Ravioli im Topf in einen Sessel. Sie kratzt das Emaillegefäß gründlich aus, stellt es anschließend neben den Sessel auf den Teppichboden. Sie hat Kaffeedurst, aber nicht die Kraft, aufzustehen. Sie legt ihren Kopf auf die Sessellehne, schließt die Augen. Ich schaff das schon, sagt sie, du, das schaff ich schon, ich werde mit allem fertig, da setz ich mich schon durch, brauchst dir keine Sorgen zu machen. Und auf der Nase schwitz ich auch nicht mehr, ganz trocken ist sie. Fast.

Sie fällt in einen dösenden Halbschlaf, der sie nach einigen Minuten frösteln macht. Sie steht auf, holt sich eine Schlafdecke. Die zwei Einzelsessel schiebt sie gegeneinander, rollt sich darin zusammen. Die rosa Wolldecke wickelt sie fest um sich, wartet auf gedankenlosen Schlaf.

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