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Trotzige Briten

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Die Europäische Gemeinschaft steckt endgültig in einer bedenklichen Krise. Ursache dafür ist vor allem auch die Hartnäckigkeit der Briten, die sich nicht länger in der Rolle des Zahlmeisters sehen wollen.

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Die Europäische Gemeinschaft steckt endgültig in einer bedenklichen Krise. Ursache dafür ist vor allem auch die Hartnäckigkeit der Briten, die sich nicht länger in der Rolle des Zahlmeisters sehen wollen.

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Wenige Tage nach dem EG-Gipfeltreffen in Brüssel (19./20. März), das an der Hartnäckigkeit der Briten gescheitert ist, sprach Frau Margaret Thatcher von ihren Vorstellungen eines künftigen Europas. Was die britische Premierministerin als ihre „Vision" bezeichnete, ist nichts anderes als ein „faires System der Finanzierung und der disziplinierten Ausgaben". Ein faires System in erster Linie für die Briten, die sich selbst als die Zahlmeister der Gemeinschaft betrachten, weil sie finanziell mehr entrichten als erben.

Kurz zuvor bekannte sich die „Eiserne Lady" im seltenen Gleichklang mit Frankreichs Präsident Francois Mitterrand zu „europäischen Idealen, die höher stehen als der Streit um Finanzen". Doch hartnäckig kommt sie immer wieder zum Schacher ums liebe Geld zurück.

Großbritannien erstrebt einen automatisch einsetzenden Mechanismus für die ärmeren Mitglieder, also für sich, der den Nettozahlungen ein Limit setzt, ein bleibendes System, um nicht immer und immer wieder um Rückzahlungen ansuchen zu müssen ohne jederzeit sicher zu sein, daß diese Refundierungen aus der Brüsseler Kasse tatsächlich gewährt werden.

Die Differenz zwischen britischen Forderungen und dem, was die anderen bereit sind wegzugeben, besteht nur in einem für derlei Größenordnungen minimalen Betrag von etwa vier Milliarden Schillingen. Fast das Zehnfache dieses umstrittenen Betrages fließt jährlich von London aus den fernen Falklandinseln im Südatlantik zur Verteidigung zu.

Gleichwohl ist der Abstand von britischen Vorstellungen und dem Entgegenkommen der anderen neun noch groß genug, um auch das Außenministertreffen in Brüssel platzen zu lassen. Thatchers Argumentation wird auch von Außenminister Geoffrey Howe hochgehalten: Londons Minusrechnung durch neun geteilt ergibt für jeden Partner eine kaum nennenswerte Summe.

Niemand zweifelt freilich daran, daß London Grund hat, über die budgetäre Ungerechtigkeit zu klagen. Sogar Präsident Mitterrand, vormals Erzfeind der Briten in der Gemeinschaft, nach der letzten Werbetour aber in der Einschätzung auf der Insel ungemein gestiegen, billigt der einzigen Frau im Zehnergipfel Berechtigung zu, das Finanzierungssystem zu ändern.

Was weniger Zustimmung findet ist die Tatsache, daß Thatcher offensichtlich nur mit dem Rechenstift kalkuliert: Ausgaben und Einkünfte. Alle anderen Faktoren, die für Großbritannien aus der Mitgliedschaft zur Europäischen Gemeinschaft ins Gewicht fallen, scheinen kaum auf.

London hat den Handel mit den europäischen Nationen in den elf Jahren der EG-Zugehörigkeit verdoppelt. Wer springt für eine traditionelle Handelsnation in die Lücke, wenn der alte Kontinent als Wirtschaftspartner ausfällt? Und noch etwas scheint vergessen: Großbritannien ist heute nicht mehr die Nation, die allein oder im Verband der einstigen Kolonien und jetzigen Dominions schon interessant und attraktiv ist.

Albion zieht heute in erster Linie durch seine Zugehörigkeit zum europäischen Markt und erst in zweiter als wirtschaftliches

Bindeglied zu den USA. Japanische und US-amerikanische Investoren auf der Insel würden es sich überlegen, weiterhin auf britischem Boden so aktiv zu bleiben, wenn sich dadurch nicht zugleich auch der Europa-Markt öffnete.

Derlei Überlegungen werden im übrigen von den sogenannten „Anti-Marketeers", den Gegnern der EG, unterbewertet. Gegenwärtig scheinen sie wieder die Oberhand zu haben. In Meinungsumfragen plädiert die überwiegende Mehrheit für den Auszug. Labour ist im großen und ganzen immer noch gegen den Gemeinsamen Markt eingestellt, obwohl der neue Führer Neil Kinnock eine reformierte EG befürwortet. Liberale und Sozialdemokraten sind wie immer gute Europäer.

Allein auch unter den Konservativen ist die Lobby der EG-Gegner beachtlich groß. Dieser Flügel traf sich etwa mit Labour-Sprecher Cook, zuständig für europäische Fragen, in der Forderung an Frau Thatcher, die Beiträge an Brüssel zurückzuhalten, bis die vorläufig noch eingefrorenen Rückerstattungen wieder aufgetaut sind.

Doch Maßnahmen von solcher Härte wurden von Thatcher und ihrem Kabinett abgelehnt, um in der Gemeinschaft die Stimmung gegen den britischen Außenseiter nicht noch weiter anzutreiben. Ist erst einmal wirklich Ebbe in der Kasse, werden also Mehreinnahmen überfällig, dann wird sich auch, so hofft man in London, der Kompromiß zugunsten Großbritanniens finden. Thatchers Zustimmung zu einer Erhöhung der Gemeinschaftseinnahmen aus der Mehrwertsteuer ist ein starkes Argument für einen Gesinnungsumschwung der anderen neun EG-Mitglieder.

Die Reform der gemeinsamen Agrarpolitik ist ein britisches Anliegen, nicht geringer eingestuft als der Streit um finanzielle Entlastung. Nachdem sich die Landwirtschaftsminister der Gemeinschaft endlich aufgerafft haben, etwas Vernunft in den Haushalt dieses Sektors zu bringen, steht Thatcher vor Problemen im Innern.

Die britische Landwirtschaft hat sich seit der Zugehörigkeit zum Gemeinsamen Markt, seit sie in den Genuß jener Privilegien kommt, die französische und deutsche Bauern schon vorher genossen, zum effektivsten Zweig der Wirtschaft entwickelt. Aus Bauern wurden Agrarökonomen, die erstmals das eigene Land zu drei Vierteln ernähren konnten.

Durch die siebenprozentige Reduktion der Quote für die Milchproduktion wird die verhältnismäßig kleine Agrargruppe — in England 2,8 Prozent der Bevölkerung gegenüber dem EG-Durchschnitt von acht Prozent — schwer getroffen. Minister Jopling steht vor der schweren Aufgabe, die Befürchtung der Bauern, daß durch die letzte EG-Maßnahme ein Sechstel der britischen Landwirte um ihre Existenz bangen müssen, zu bestätigen oder zu zerstreuen. Was dabei fv,ir Thatcher ins Gewicht fällt: Die Landbevölkerung hält aus Tradition zu den Tories.

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