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Trotzmacht des Geistes

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Man kann es die Massenneurose von heute nennen, daß — im Gegensatz zur Lehre von Sigmund Freud—die Menschen heute weniger an sexuellen Frustrationen leiden als vielmehr an existentieller Frustration. Was ihnen unter den Nägeln brennt, sind die Sinnfragen.

Und im Gegensatz zur Individualpsychologie von Alfred Adler, der zweiten Wiener klassischen Richtung der Psychotherapie, geht es heute auch nicht so sehr um Minderwertigkeitsgefühle als um ein abgründiges Sinnlosigkeitsgefühl, das vielen Menschen

zu schaffen macht. Die Leute haben im allgemeinen genug, von dem sie leben können, wissen aber kaum mehr um etwas, für das sie zu leben vermöchten.

Im Hinblick auf dieses Nichts, dem sie gegenüberstehen, könnte man von einem „gelebten Nihilismus“ sprechen, der um so bedenklicher wird, je mehr er mit dem Fatalismus einhergeht.

Sagt sich der Nihilist, es sei nicht nötig, sein Schicksal zu meistern, da das Leben ja letztlich keinen Sinn habe, so geht der Fatalist davon aus, daß es nicht nur unnötig, sondern auch unmöglich sei, da wir als Opfer von Zuständen und Umständen weder frei noch verantwortlich seien.

Alles wird deduziert — „abgeleitet von“. In der verengten Sicht dieses „Deduktionismus“ erscheint der Mensch als bloßes Resultat oder Produkt von psychodynamischen Prozessen, , von Lernprozessen, biochemischen Prozessen oder ökonomischen Prozessen. Ein Produkt, ein Resultat.

Er gilt, mit anderen Worten, als das Opfer der Verhältnisse, und es wird verdrängt, daß der Mensch selber der Gestalter der Verhältnisse ist - auch der potentielle Gestalter und Umgestalter seiner selbst.

Er hat auch die Freiheit, von sich selbst abzurücken, sich zu distanzieren, sich zu objektivieren, sich in die Hand zu nehmen, nicht nur sein äußeres Schicksal: auch sein eigenes Selbst.

Max Scheler hat einmal bemerkt: Der Verbrecher, also der Schuldig-Gewordene, hat ein menschliches Anrecht, einen menschlichen Anspruch auf Strafe. Es ist die tiefste mögliche Entwürdigung, einen Menschen wie einen Mechanismus, wie einen Apparat hinzustellen, der nichts für seine Taten kann, sondern repariert werden muß: „Er ist ja nicht verantwortlich, er ist ja nicht frei.“

Nicht nur der Deduktionismus, sondern auch der Reduktionismus leistet dem Sinnlosigkeitsgefühl Vorschub. Als ich 13 Jahre alt

war, ist unser Naturgeschichtelehrer die Gangreihen auf und ab gegangen und hat gesagt: Das Leben ist nichts anderes als ein Verbrennungsprozeß, ein Oxydationsprozeß. (Das war eigentlich „Oxydationismus“—eine Sonderform des Reduktionismus).

Ich sehe mich noch vor mir selber, wie ich damals aufgesprungen bin und dem Mann die Frage ins Gesicht geschleudert habe: Ja, wenn das so ist, was hat denn das ganze Leben dann für einen Sinn?

Ich habe vor Jahren beim Internationalen PEN-Meeting die Ehre gehabt, über das Thema „Die moderne Literatur im Lichte der Psychotherapie“ zu sprechen. Ich hob besonders hervor, daß leider heute die Literatur vielfach der Ausdruck dieses weltweiten Sinnlosigkeitsgefühls ist.

Aber der Schriftsteller hat eine Chance, hat die Wahl: Die Literatur muß nicht bloß ein Symptom der Massenneurose von heute sein! Sie kann auch einen Beitrag zur Therapie leisten, denn gerade die Menschen, die durch die Hölle der Verzweiflung über die scheinbare Sinnlosigkeit des Daseins hindurch mußten, gerade die sind aufgerufen, ihr Leiden sozusagen anderen Menschen zum Opfer zu bringen.

Gerade die Selbstdarstellung ihrer Verzweiflung kann den Lesern, die sich ebenfalls mit dem Leiden am sinnlosen Leben herumschlagen, dazu verhelfen, es zu überwinden, und sei es auch nur, indem sie spüren, daß sie nicht allein sind. Mit anderen Worten: indem das Gefühl der Absurdität umschlägt in ein Gefühl der Solidarität.

Wann immer dies aber geschieht, lautet die Alternative nicht mehr „Symptom oder Therapie“, sondern dann ist das Symptom eine Therapie.

Der deutsche Psychiater Johannes Lange hat eineiige Zwillinge beschrieben, von denen der eine ein raffinierter Krimineller wurde, der andere hingegen ein nicht minder raffinierter Kriminalist. Die Veranlagung der beiden Brüder war die gleiche — ausschlaggebend war also nicht das ererbte Raffinement, sondern die Entscheidung, zu welchen verschiedenen Zwecken es jeweils eingesetzt wurde, was jeder aus sich selber gemacht hat.

Innerhalb der Grenzen, die ihm Bedingungen und Umstände lassen, ist die Entscheidung des Menschen frei. Das heißt nicht, daß der Mensch von biologischen, psychologischen und soziologischen Gegebenheiten unabhängig wäre.

Aber er ist und bleibt darin frei, zu all diesen Bedingungen und Umständen Stellung zu nehmen: sei es, daß er sich ihnen unterwirft, sei es, daß er sie überwindet, indem er die Trotzmacht des Geistes einsetzt.

Aus: „Epoche“ Nr. 10/1981.

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