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Tschechow und Ingrisch

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Zu einem Wettstreit zweier führen- der-deutschsprachiger Bühnen kam es bei den diesjährigen BregeriZer Festspielen. Die Burg brachte ihre bereits in Wien erprobte Produktion von Ibsens Hedda Gabler, Boy Gobert, Leiter des Hamburger Thalia-Theaters, kam mit einer Inszenierung von Anton Tschechows „Onkel Wanja“. Dieter Giesing, der Regisseur der in Bregenz vorgestellten Inszenierung, seziert die Seelenzustände der am Wanja-Drama beteiligten Personen mit der kühlen Distanz des Psychiaters. Freud und Adler lassen grüßen. Zugleich bringt er eine herbe Analyse der von Auflö-

sungserscheinungen befallenen russischen Gesellschaft der Jahrhundertwende. Gerade die Behutsamkeit und Nüchternheit, mit der Giesing diese mit vielen Wunderlichkeiten befrachtete Elegie russischen Landlebens abrollen läßt, die sich mit einer kaum wahrnehmbaren Geschwindigkeit zu einer Tragödie entwickelt, hebt diese Produktion aus dem Theateralltag heraus.

Hier sind Menschen unentwirrbar in ihr Schicksal verstrickt. Wanja etwa wird durch ständige eintönige Landarbeit am wirklichen Fortkommen gehindert, von Peter Striebeck in allen facetten -, vom gebrochenen, resignierenden Alkoholiker, über den abgewiesenen Liebhaber bis hin zum erfolglosen Amokläufer, hervorragend gezeichnet. An seiner Seite eine an ihre großen Leistungen der Gründgens- Zeit anknüpfende Ingrid Andree in der Rolle der häßlichen, ohne jede Hoffnung in einen Landarzt verliebte Nichte Wanjas, die zwar die sich auftürmenden Familienprobleme nicht lösen kann, aber eine Katastrophe verhindert. Frau Andree war eine so beherrschende Figur, auch hinsichtlich der leisen Töne, daß es Nicole Heesters in der Rolle der Jelena Andrejewna schwer hatte, sich zu behaupten. Eine junge Frau, die ein Idol ihrer Jugend geheiratet hat, das nach den Geschehnissen rund um Wanja als Scharlatan, Egozentriker und Schmarotzer entlarvt wird, von Richard Münch zu einer eindrucksvollen Charakterstudie ausgestaltet.

Ebenfalls eindrucksvoll der russische Landarzt - Boy Gobert -, ein gebrochener Intellektueller, der kaum noch die Kraft hat, seinem Leben einen Sinn zu geben.

Ganz diesem von „fin de siede“ um wehten Stilleben angemessen das Bühnenbild vpn Wilfried Minsk, in dem, um in musikalischen Kriterien zu sprechen, diese dem russischen Lebensgefühl nachempfundene Elegie wie eine Tschaikowsky-Partitur ausgedeutet werden konnte.

Kurzweiliger und eher ein Sommerstück die Novität, mit der das Theater für Vorarlberg seinen diesjährigen Beitrag im Rahmen der Bregenzer Festspiele erbrachte. Zum zweiten Mal kam es zu einer Zusammenarbeit mit der Wiener Autorin Lotte Ingrisch. Diesmal als Uraufführung eine Myste- rienkomödie mit dem Titel „Herr Flo-

ridus“.

In einer Art Mischung zwischen Mysterienspiel und heiterem Coupletstück versucht die Autorin, ihren großen Ziehvater Nestroy im Rücken, unter dem Deckmantel einer utopischen Komödie gegen den Fortschrittsglauben, die Herren Darwin, Marx und Freud, damit gegen den Materialismus als Religion und die Wissenschaft als Dogma zu polemisieren.

Ihr von argen Zweifeln geplagter Held, der bieder-treuherzige Pfarrer Floridus, hat bei seiner Begegnung mit der Göttin des Fortschritts, der natürlich jungfräulichen Rathilie Zwickeri, auf dem Bregenzer Martinsplatz Mühe, sich gegen diesen miesen Zeitgeist zu behaupten, der seinen Gott und dessen Kirche demokratisieren und ihn zu einem Ombudsmann mit Jesus als Idol machen will.

Ein ehrliches Stück, dessen Thematik, betrachtet man die Marxismusdiskussion unter französischen Intellektuellen, durchaus aktuell ist. Leider ist Lotte Ingrischs „Nestroyade“ nicht frei von Klischees und auch nicht aus einem Guß. Am überzeugendsten da, wo es zum Streitgespräch zwischen Pfarrer und Fortschrittsgöttin kommt, schwächer dagegen in der Gestaltung der an Raimund erinnernden Figuren aus dem Volk. Dieses Schwanken zwischen literarisch-ambitioniertem Theater und Wiener Vorstadtbrettl macht es dem Regisseur nicht leicht.

Bruno Felix entschied sich konsequent für ein munter aufgeputztes Volkstheater und ließ der Spielfreude seiner Schauspieler vollen Lauf. Allen voran der mit liebenswerten Schwächen ausgestattete Pfarrer Paul Hörs und die kapriziöse Vorreiterin des Fortschritts von Rosmarie Heisler.

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