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Tschernenkos Erbe

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Seit der Oktoberrevolution 1917 hatte die Sowjetunion nur sechs Führer im Kreml sitzen. Aber allein seit Breschnews Tod im November 1982 hat sie zwei Staatsund Parteichefs verloren: Juri Andropow im Februar 1984 und jetzt Konstantin Tschernenko im März 1985. Das bedeutet jedoch: Seit über drei Jahren herrscht im sowjetischen Machtzentrum Moskau eine permanente Endzeitstimmung, wurde die rote Supermacht von kränklichen Greisen an der Spitze gelenkt, die durch monatelange Abwesenheiten glänzten.

Gewiß: Andropows teilweise spektakulär wirkenden Reformansätze, vorangetrieben unter anderem mit einer Disziplinie-rungskampagne, mußten alsbald im bürokratischen Getriebe der Sowjetmacht stecken bleiben, zu kurz war seine aktive Amtszeit bemessen. Nachfolger Tschernenko hatte noch weniger Zeit, der Sowjetunion während seiner Herrschaftsperiode den eigenen Stempel aufzudrücken.

Aber das hatte das allmächtige Politbüro im Februar 1984 ja auch offensichtlich nicht im Sinne gehabt, als es Tschernenko zum Nachfolger Andropows gekürt hatte. Der trockene Bürokrat aus dem Kreise des früheren KPdSU-Chefs Breschnew war von Anfang an nur eine Ubergangslösung, dazu ausersehen, die Politik der Po-litbüro-Gerontokratie als „braver” Verwalter fortzuführen.

Deshalb war Tschernenkos Spielraum für Eigeninitiative von vorne herein gering — wenn er das auch vielleicht sogar gewollt hätte. Aber darauf deutete in seiner Amtszeit ohnedies so gut wie nichts hin.

Innenpolitisch jedenfalls war während seiner Amtszeit eher eine weitere Verknöcherung des politischen und sozialen Systems der UdSSR festzustellen. Zu spüren bekamen das alle Sowjetbürger vor allem aber Oppositionelle, Menschenrechtskämpfer und die Gläubigen.

So wurden in der Ära Tschernenko von der Staatsmacht verstärkte Anstrengungen unternommen, um das Sowjetsystem und seine Bürger von ausländischen Einflüssen abzuschirmen. Dazu zählt ein Erlaß des Obersten Sowjets vom 25. Mai 1984, der die Kontakte von Sowjetbürgern mit dem Ausland erschwert; dazu zählt die Behinderung des internationalen Telefonverkehrs durch die Rückkehr von der automatischen zur Handvermittlung; dazu zählt die Aufhebung der Möglichkeit zur Vorverzollung von Liebesgaben, die in die UdSSR geschickt werden.

Die auslandsfeindlichen Maßnahmen verraten freilich nicht unbedingt die Stärkung des Systems in der Ära Tschernenko. Das Anziehen der Repressionsschraube zeigt auch eine gewisse Unsicherheit, ja Ängstlichkeit Einflüssen gegenüber, die die Kreml-Machthaber mit Ideologie-Floskeln allein nicht erklären können. Religion zählt gewiß auch zu diesen Einflüssen.

So richtig wohl während der Herrschaft Tschernenkos fühlten sich vor allem die Apparatschiks, die Parteibonzen, die noch Andropow durch seine Disziplinie-rungskampagne erheblich verunsichert hatte, die nach dem Amtsantritt des getreuen Gefolgsmannes von Leonid Breschnew aber wieder in den alten Bürokraten-Trott der siebziger Jahre zurückverfallen konnten.

Wirtschaftlich sieht Tschernenkos Bilanz auch nicht gerade rosig aus: Die Wachstumsrate war 1984 in etwa gleich wie 1983, im Landwirtschaftsbereich wurde eine

Lichtjahre vom Plansoll entfernte Ernte in die Scheunen der Kolchose-Bauern gefahren. Das schlechte Wetter hatte daran wohl nur zum Teil Schuld.

Positiv bleibt dann eigentlich nur zu vermelden, daß sich wenigstens außenpolitisch in Moskau einiges bewegt hat. Nachdem die Sowjetunion sich im ersten Halbjahr 1984 in den Schmollwinkel zurückgezogen und mit einer harten Verweigerungstaktik und Abschottungspolitik ihre Mißfallen über die NATO-Nachrüstung ausgedrück hatte, gab die Kremlführung im Laufe des Herbstes dann doch wieder grünes Licht für ein Wiederanknüpfen des Gesprächsfadens mit der anderen Supermacht zum Zwecke der Rüstungskontrolle: Seit gestern wira darüber in Genf wieder im großen Rahmen verhandelt (siehe auch Seite 6).

Breschnew, Andropow und Tschernenko haben ihrem Nachfolger ein schweres Erbe hinterlassen: überbordende bürokratische Strukturen, wirtschaftliche Stagnation, technologische Rückständigkeit, eine marode Landwirtschaft, die Last eines gigantischen Militärapparates und Rü-stungsprogrammes, eine nach wie vor unter der Oberfläche schwelende nationale Frage, eine von Korruption, Alkoholismus und destruktivem Zynismus befallene Gesellschaft.

Dazu kommen die außenpolitischen Probleme: ein unruhiges osteuropäisches Vorfeld, der politisch-militärische Wettlauf mit der westlichen Supermacht USA, ein kostspieliges Engagment in anderen Teilen der Welt, der Abnützungkrieg in Afghanistan usw.

Aus der Sicht des Kreml mag das alles nicht so problematisch sein, wie es durch westliche Augen aussehen mag. Dennoch: Tschernenko-Nachfolger Michail Gorbatschow hat ein schweres Erbe zu übernehmen.

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