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Tschernobyl: Schon wieder vergessen ?

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Drei Monate nach Tschernobyl: Alles scheint wie vorher-auf unserem Speisezettel und in der Politik. F. J. Strauß reitet für Wakkersdorf. War also alles umsonst?

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Drei Monate nach Tschernobyl: Alles scheint wie vorher-auf unserem Speisezettel und in der Politik. F. J. Strauß reitet für Wakkersdorf. War also alles umsonst?

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Ende April begann in Europa das große Meß-Fieber. Eine verängstigte und verunsicherte Bevölkerung informierte sich über Strahlenwerte, über Becquerel und Rem, über die „Lagerzeiten“ von Cäsium und Strontium. Am schlimmsten wurde Schweden betroffen. Auch Polen.

Die ersten Wahrscheinlichkeitsrechnungen sprechen von einer großen Anzahl von Krebserkrankten innerhalb der nächsten Jahrzehnte. „Die nächste Generation ist bedient“, verlautet eine lakonische Erklärung. Schweden und Holland haben sich zum Verzicht auf Atomenergie entschlossen. Die Schweiz erwägt eine Denkpause.

Das ist ein Stichwort.

Wer angesichts der Katastrophe von Tschernobyl und ihrer Folgen nicht wenigstens bereit ist, umzudenken, hat in führenden Positionen nichts mehr zu suchen.

Ich habe in den letzten Wochen mit vielen Menschen gesprochen. Mit Männern und Frauen. Vor allem mit Frauen, die ja immer die Leid-Tragenden sind. In den vergangenen Jahrhunderten haben sie „nur“ ihre erwachsenen Söhne (oft waren's halbe Kinder) auf den Schlacht-Feldern opfern müssen. Im letzten Krieg mußten sie auch um das Leben der Kinder und das eigene Leben bangen, denn die Bomben fielen in der Heimat — die die Männer an der Front verteidigten - so treffsicher wie anderswo.

Jetzt sind wir soweit, daß die Frauen nicht nur um das Leben der ganz kleinen Kinder, sondern auch um das der ungeborenen bangen müssen. „Schutz des ungeborenen Lebens“, heißt eine Aktion.

Schutz? Es gibt keinen, sagen die Ärzte aller Nationen. Sie sind fast die einzigen, die eine wahrhaftige Sprache sprechen. Sie sagen: „Uns fehlen Erfahrungen, denn was hier geschehen ist, ist neu.“

Sie sagen weiter - haben es schon vor Jahren gesagt, ohne „höherenorts“ bei den verantwortlichen Politikern gehört zu werden: „Im Ernstfall gibt es keinen Schutz. Weder im Augenblick der Katastrophe, noch später.“

Soviel hat sich immerhin seit den verheerenden Erfahrungen von Hiroshima schon herumgesprochen.

Wir wollen doch noch einmal festhalten, wie das war und jederzeit wieder sein kann, weil menschliches und technisches Versagen immer möglich ist: Die Kinder wurden im Haus gehalten, durften nicht auf die Wiesen, nicht auf die Spielplätze, nicht in die Sandkästen, nicht in die Freibäder, durften nicht barfuß gehen.

Die Kinder mußten die Erwachsenen für verrückt halten. Alles, was einmal gesund war und Spaß gemacht hatte, war plötzlich verboten. Die Sorgen um die tägliche Nahrung begannen und halten an. Vieles wird erst noch auf uns zukommen.

Der Kinderarzt Ferdinand Sartor empfahl während einer Diskussion im Salzburger Bildungshaus St. Virgil jungen Müttern, ihren Kindern bis zum zweiten Lebensjahr keine Milch zu geben, bis zum sechsten so wenig wie möglich. Blattgemüse sei zu vermeiden, desgleichen Mund-Boden-Kontakt von Krabbelkindern. (Und wie macht man das???)

Vor Sartor ist der Hut zu ziehen, weil er warnende Stimmen, weil er berechtigte Angst nicht als „hysterisch“ bezeichnet. Der Hut zu ziehen ist auch vor dem Salzburger Gynäkologen Wolfgang Rucker, der die sofortige Stillegung sämtlicher Atomkraftwerke als einzig denkbare Konsequenz des Tschernobyl-Unfalls forderte und das Publikum aufforderte, gegen alle aufzutreten, die „diesen Wahnsinn weiterführen wollen“.

Fest entschlossen, diesen Wahnsinn weiterzuführen, ist Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß. Trotz der Katastrophe von Tschernobyl bekennt er sich immer wieder „ohne Wenn und Aber zur Atomenergie“. Einen Ausstieg-aus der Atomenergie verweist er „ins Reich der Utopie“, bezeichnet er als „Rückfall ins finstere Mittelalter“. Auch könne man dann „den Lebensstandard nicht halten“.

Wen oder was bitte?

Den Lebens-Standard? Wem nützt der Standard, wenn das Leben unmöglich gemacht wird? Die Erde ist geschunden, ausgebeutet und verdreckt genug. Das fängt bei der Luft und dem Wald an und hört beim Wasser auf. Die Atomenergie könnte für den Rest sorgen.

„Wackersdorf wird gebaut.“

Wenn ein Bürger unserer Gesellschaft einem anderen etwas Böses zufügt, wird er eingesperrt und bestraft. Wenn ein führender Politiker über die Angst von Tausenden von Männern, Frauen und Kindern hinweggeht wie über Leichen, bleibt er auf freiem Fuß.

Lebens-Standard!

Wenige Monate nach einer Katastrophe (wie sie nach Ansicht der Experten „nur alle tausend Jahre einmal vorkommt“), die den Menschen eine Ahnung - nur eine Ahnung—da von gegeben hat, was sie erwartet, wenn sie nicht mit allen Kräften daran arbeitet, das bereits Gemachte abzubauen und Neues zu verhindern, gibt es führende Politiker, die sich weiterhin für Atomenergie einsetzen.

Sie sind verantwortungslose und fantasielose Versager: Verantwortungslos, weil sie das Leben kommender Generationen mißachten, nämlich gefährden oder unmöglich machen; fantasielos, weil sie sich in ihrer beschränkten Borniertheit nicht vorstellen können, was eintreten kann, wenn sie nicht lernen, umzudenken.

Im Ernstfall werden sie hilflos sein. Noch aber haben sie das Sagen.

Osterreich kann für sich in Anspruch nehmen, kein Atomkraftwerk zu betreiben. Zwentendorf wurde durch Volksentscheid nicht in Betrieb genommen.

Aber was hilft das letztlich? Rundherum grenzen die Länder an, in denen Atomkraftwerke in Betrieb sind. Und der Wind weht, wo er will und hat „grenzenlose Freiheit“.

Der beispiellose Zynismus, mit dem Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß auf die Ängste der Menschen vor Wackersdorf reagiert, verdient, in Erinnerung behalten zu werden. Er fragte, ob man denn nicht wüßte, wieviel Atomsprengköpfe in Bayern lagern.

Auf Angst mit Zynismus und Drohung zu reagieren, weist einen Un-Menschen aus.

Piloten, denen auf weiten Flugstrecken Hunderte von Menschen anvertraut sind, werden regelmäßig auf ihren psychischen und physischen Gesundheitszustand untersucht. Wer untersucht die Politiker aller Welt auf ihre menschlichen Qualitäten?

Es gibt genug Beweise in der Weltgeschichte, daß die Menschheit von Kriminellen oder Wahnsinnigen beherrscht wurde. Wer in der augenblicklichen Situation nicht alles tut, um einen Wahnsinn zu stoppen, der von Menschen nicht beherrschbar ist, gehört weg.

Unser Gewissen braucht uns nicht zu belasten: die Steuerzahler sichern jedem Politiker im Ruhestand eine Pension, bei der sich's leben läßt.

Ich habe mich bis jetzt um Politik nicht viel gekümmert. Ich muß umdenken. Wir alle müssen umdenken, ein-sichtig werden, daß wir aufmerksam leben müssen, wenn wir leben wollen. Daß wir uns wehren müssen.

Wir müssen mit allen Menschen darüber sprechen. Das Gespräch darf nicht abreißen. So gesehen, war Sokrates der beste Politiker, den es je gegeben hat: mit allen Menschen darüber sprechen, was alle angeht.

Es geht uns alle an. Uber alle Grenzen hinweg.

Wir dürfen „es“ nicht so weitergehen lassen.

Denn dann geht es nicht mehr lange so weiter.

Die Autorin ist Schriftstellerin und eine der Gewinnerinnen beim Wettbewerb christlicher Literatur, den die FURCHE gemeinsam mit dem Verlag „Styria“ veranstaltet hat.

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