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Türkisches Hin und Her

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Die neubegründete „Nationalistische Front” in der Türkei ist eine etwas bunt zusammengewürfelte Angelegenheit. Süley- man Demirel von der „Gerechtigkeitspartei” (149 Sitze von 450 in der Großen Nationalversammlung) spielt die erste Geige. Er ist nach Ansicht vieler Freunde ein gottbegnadeter Taktiker, nach Meinung anderer der ausgekochteste überhaupt. Wie es dieser einstige Ministerpräsident (1965 bis 1971), dessen Rücktritt schließlich durch ein Ultimatum des Militärs erzwungen wurde, verstanden hat, die angeschlagene Hausmacht wieder stabil aufzubauen, das gleicht schon den Tricks eines Zauberlehrlings. Seine Neuwahl zum Vorsitzenden der „Gerechtigkeitspartei” ist am 14. Oktober 1974 mit der gewaltigen Mehrheit von 1308 gegen 76 Stimmen erfolgt. Fast schien es damals so, als denke jeder der Delegierten nur noch an die billigen Preise während der Ära Demirel und als seien Demirels Gesichtsverlust von 1971 und die vorangegangenen skandalösen Korruptionsaffären vergessen.

Selbst die eigenen Brüder waren darin verwickelt. Ja, die bettelarme Familie Demirel ist zu einer der reichsten des Landes, laut Gerüchten sogar zur drittreichsten, geworden. Ursprünglich verdankte der spätere „König der Staudämme” sein Ingenieurstudium ausschließlich Stipendien. Mit dem ihm eigenen Geschick verstand er es, diesen Hintergrund propagandistisch auszuwerten, sogar in einem biographischen Film. Dadurch gewann der „Bauernjunge als Senkrechtstarter” einen beträchtlichen Teil der Landbevölkerung für sich. Ihr verdankte er die Wahlstimmen, den feudalen Großgrundbesitzern die gefüllte Parteikasse. Lange gutbezahlter Vertreter einer amerikanischen Firma, galt seine Linie als betont US-freundlich.

Von Demirel war die Re-Islamisie- rungs-Politik des 1960 nach zehnjähriger Regierungszeit abgesetzten und hingerichteten Ministerpräsidenten Adnan Menderes fortgeführt worden, die mit dem lupenreinen Laizismus Atatürks nach der Salamitaktik verfährt. Um so mehr überraschte ein Satz aus der Resolution des jüngsten Kongresses der „Gerechtigkeitspartei”. Unmißverständlich wurde da solchen Elementen der Kampf angesagt, die „die Türkei ins Mittelalter zurückführen wollen”.

Nun, Professor Necmettin Erbakan, der Repräsentant dieser Richtung, ist der zweitstärkste Mann der „Nationalistischen Front”. Niemals war der Vorsitzende der „Nationalen Heilspartei” (48 Sitze und 12 Prozent der Stimmen) mit der Zahl der neuen Moscheen Und religiösen Schulen aller Grade zufrieden, obgleich sie bereits wie die Pilze aus dem Boden sprossen. Er verlangte die Anerkennung der bisher als illegal betrachteten Studien und Diplome junger Türken an antikemalistischen geistlichen Seminaren und theologischen Fakultäten in Saudi-Arabien, Libyen und Ägypten und sogar türkische Staatsstipendien für sie.

Auf die Dörfer wollte er weitere Hodschas verpflanzen, obgleich jedes dritte noch keine eigene Volksschule hat, die vorhandenen Klassen überfüllt sind, schichtweise unterrichtet wird und es an Lehrern bitter mangelt. Während eines trotz beweiskräftiger Tonbandaufnahmen hinterher von ihm abgeleugneten Interviews gab der Professor zu verstehen, daß er mit der Scheria sympathisiert und ein Strafgesetz dieses mittelalterlichen, ursprünglich für nomadisierende Wüstenstämme bestimmten islamischen Rechts als „beste Therapie zur Heilung der sozialen Krankheit” ansieht, nämlich: öffentliches Abhacken einer Hand zwecks Sühnung eines noch so geringfügigen Diebstahls.

Welche gemeinsame Plattform haben nun die Parteien der „Nationalistischen Front”? Alle führen einen Werbefeldzug gegen das, was sie die Linke nennen. Darunter wird die „Republikanische Volkspartei” verstanden, die illegale „Kommunistische Partei” und die gleichfalls verbotene marxistische „Arbeiter-

Partei” die „Nationale Einheitspartei” (ein Abgeordneter), die sich links Von Ecevit bewegt und die „Sozialistische Arbeiterpartei”, eine Neugründung. Die vier von der „Nationalistischen Front” befürworten zu ungunsten des Etatismus einen libe- len Wirtschaftskurs und verneinen die Bodenreform.

Darin unterscheidet sich die „Demokratische Partei” (45 Sitze) nicht von ihnen. Sie ist eine Abspaltung der „Gerechtigkeitspartei”, wirft ihr vor, nicht ausreichend anti-kommunistisch gewesen zu sein und dadurch den Staatsstreich des Militärs von 1971 verschuldet zu haben. Ferruh Bozbeyli, der Vorsitzende der „Demokratischen Partei”, war ein sehr fähiger Präsident der Großen Nationalversammlung. Ecevit hatte er eine Koalition anstelle des Bündnisses mit der „Nationalen Heils-Partei” zugesagt. Audi vorzeitige Wahlen, die nur durch Selbstauflösung des Parlaments mit einfacher Mehrheit möglich sind, waren unter vier Augen vereinbart worden. Dann widerrief Bozbeyli sein Versprechen und schwankte nun wie eine Wetterfahne hin und her. Einmal will er einer langfristigen Koalition mit Ecevit zustimmen, ein anderes Mal einer Allparteien-Regierung und dann wieder einem „Nationalistischen Front-Kabinett”, allerdings ohne den von ihm gehaßten Demirel als Regierungschef, sondern wieder unter Professor Irmak.

Ohne schweren Gesichtsverlust könnte sich Demirel das nicht leisten. Sein Spiel ist vielschichtig. Gegenwärtig übt er Druck nach drei Seiten aus. Den geschäftsführenden Ministerpräsidenten Irmak läßt Demirel seine Macht fühlen und nicht zu stark werden. Ecevit’ attackiert er, deutet diesem mächtigsten Gegner jedoch gleichzeitig die Chancen einer Koalition der Großen Zwei oder die Unterstützung einer „Republikanischen Volkspartei-Minderheitenregierung” an. Mit kompakten Mitteln werden seine Versuche fortgesetzt, Bozbeyli ein paar demokratische Abgeordnete abspenstig zu machen.

Tatsächlich ist der Vorsitzende der „Gerechtigkeitspartei” an einer übereilten Übernahme einer unstabilen Regierung, während sich die wirtschaftliche Situation zunehmend verschlechtert, wohl nicht sonderlich interessiert. Wenn sich vorzeitige Neuwahlen vermeiden ließen, läge die Situation anders. Dann könnte er als Regierungschef immerhin von einer vorhandenen Devisendecke profitieren. Nach OECD-Schätzungen dürfte diese durch noch höhere öl- und sonstige Rohstoffpreise und Entlassung weiterer türkischer Gastarbeiter, deren Zuwendungen dann entsprechend zurückgehen müßten, in etwa zwei Jahren aufgebraucht sein.

Rasche Wahlen wären für Demirel ungünstig. In der Breitenwirkung hat seine Ausstrahlungskraft zweifellos nachgelassen und er kann mit Ecevits Glorie nach der erfolgreichen Zypemaktion keinesfalls konkurrieren. Verschiedene Wahlreformvorschläge Demirels sind allzu durchsichtig. Mit der Sperrklausel würden sich die kleinen Parteien nie einverstanden erklären. Auch eine andere Idee käme nur ihm und höchstens noch in begrenzterem Umfang Erbakan zugute. Er möchte das Land in kleinere Wahlkreise aufteilen, in denen nur ein Kandidat durchkommen könnte. Dadurch wüchse das Gewicht des Dorfes, also seiner Hochburgen, und mehr Großgrundbesitzer würden parlamentsreif werden. Die „Nationalistische Front” beabsichtigt, wieder dort Einheitswahllisten aufzüstellen, wo die „Republikanische Volkspartei” 1973 ein klares Übergewicht aufwies. Nur mit einer Änderung des Wahlgesetzes ließe sich das verwirklichen. Für die erforderliche einfache Mehrheit würden auch die Stimmen der Demokraten gebraucht. So oder so bleibt Bozbeyli demnach das Zünglein an der Waage.

Welche Lösungsmöglichkeiten bieten sich nun an, um die über drei Monate währende Krise endlich zu beenden? Am 25. Jänner 1975 wird der Parteitag der Demokraten stattfinden. Sofern dann genügend Abgeordnete in den Schoß der „Gerechtigkeitspartei” heimkehren und sich vielleicht noch ein paar Unabhängige dazugesellen, wäre die Mehrheit für eine Demirel-Regierung unter Ausschluß der von ihm gefürchteten baldigen Wahlen gegeben.

Die’Demokraten könnten aber genausogut eine Koalition mit der „Republikanischen Volkspartei” ein- gehen. Dann würde wohl ein Mittelweg zwischen Ecevits Wunsch nach baldigen Wahlen und Beyoglus Wunsch nach nicht zu baldigen gefunden werden müssen. Der Parteikongreß der „Republikanischen

Volkspartei” vom 14. bis 17. Dezember 1974 verlief so, daß es die Demokraten es nun leichter hätten, sich mit ihr zusammenzuraufen. Ecevit wurde ohne Gegenkandidaten mit der imposanten Mehrheit von 1323 von 1371 Stimmen zum Vorsitzenden wiedergewählt. Auch der erweiterte 64köpfige Vorstand, die sogenannte Parteiversammlung, besteht, nicht zuletzt dank geschickter Geschäftsordnungstaktik der Provinz-Parteibüros, die die „richtigen” Delegierten nach Ankara beorderten, aus gemäßigten Sozialdemokraten, ausgenommen zwei oder drei demnach völlig majorisierte Vertreter des linken Flügels. Nach Ansicht mancher türkischer Analytiker ist aber doch die wahrscheinlichste Lösung ein noch monatelanges Verbleiben der „ÜbergangS”-Regierung Irmak im Amt.

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