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Tugend sucht neue Funktion
Hat Österreichs Neutralität heute dieselbe Bedeutung wie während des Kalten Krieges? 45 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher antworteten auf diese Frage bei einer Erhebung der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft mit „Ja", 27 Prozent sahen einen Bedeutungsverlust, 19 Prozent glaubten glatt an einen Rangzuwachs. Ein neutraler Staat wird nach Meinung der Befragten „hochgeschätzt" (43 Prozent); nur elf Prozent tippten auf Geringschätzung. Unter den Werten, auf die Österreicher stolz sind, kommt die Neutralität (41 Prozent) gleich nach der Landschaft (68 Prozent) und noch vor Kunst und Kultur (39 Prozent).
Mit einem Wort: Viele Landsleute irren sich in der Einschätzung eines Rechtsgutes, das Österreich 1955 freiwillig übernommen hat und mit dem es seither gut gefahren ist. Aber die bisherige Funktion der Neutralität ist mit dem Ende des Kalten Krieges gestorben. Und gestorben ist damit auch die Lebenslüge, mit der viele von uns die Neutralität umsponnen haben.
Die Substanz der völkerrechtlichen Neutralität war und ist: Ein Staat erklärt, sich aus internationalen Konflikten heraushalten zu wollen. Viele Österreicher sahen das anders: „Wenn wir neutral sind, greift uns niemand an." Ein Irrtum, immer bekannt, nunmehr auch belegbar: Alle unsere Nachbarstaaten geben heute zu, daß sie Aufmarschpläne gegen Österreich hatten. Wir aber hatten nur ein sehr theoretisches Bekenntnis zur Verteidigung des eigenen Landes. Die Neutralität allein hätte uns, das wissen wir heute mit Sicherheit, nicht geschützt. Wäre das Bundesheer stark genug dafür gewesen?
Und was das Ansehen der neutralen Staaten anlangt: In der Zeit des Kalten Krieges war ein neutraler, der Solidarität auf andere als auf Bündnisart übte, vielfach geschätzt. Zunehmend aber zählt internationale Solidarität mehr. Überhaupt konnte Neutralität nur solange eine Tugend sein, als jeder Staat für sich ein „ius ad bellum", ein Recht auf Kriegführung nach eigenem Ermessen, geltend machen konnte.
Heute trifft jeden die Friedenspflicht der UN-Charta. Neutralität bei der gemeinsamen Bekämpfung ejnes Aggressors ist keine Tugend mehr. Diesen Schwenk hat Österreich ja ohnehin schon anläßlich des Golfkriegs 1991 vollzogen.
Dieser Tage wird von Herbert Krejci, Erich Reiter und Heinrich Schneider im Signum-Verlag ein neues Buch zum Thema „Neutralität - Mythos und Wirklichkeit" herausgebracht. Die große Mehrheit der namhaften Autoren spricht sich für ein Überdenken der traditionellen österreichischen Neutralität aus. Erhard Busek und Werner Fasslabend haben in diese Richtung schon markante Signale gesetzt. Jetzt schwenkt auch Franz Vranitzky auf diese Linie ein. Wieder einmal bleibt es Jörg Haider vorbehalten, wenige Monate nach Lostreten einer Neutralitätsdebatte mit üblem Auftakt (in München!) zum Gegenstandpunkt umzuschwenken und plötzlich Nein zu sagen.
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