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Turbulente Flüge

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Die Krise der SPD vor ihrem Parteitag in Hannover nähert sich dem Höhepunkt. Während der Neomarxismus an der SPD-Basis eine erstaunliche Renaissance erlebt und sich Brandt, Wehner und Schmidt immer stärker als die von Sachzwängen gebundenen „revisionistischen“ Regierungsführer von den Jusos distanzieren, geht auch — etwas weniger spektakulär — der Konflikt innerhalb der CDU/CSU weiter. Aber auch hier spitzen sich die Auseinandersetzungen auf eine Entscheidung zu.

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Die Krise der SPD vor ihrem Parteitag in Hannover nähert sich dem Höhepunkt. Während der Neomarxismus an der SPD-Basis eine erstaunliche Renaissance erlebt und sich Brandt, Wehner und Schmidt immer stärker als die von Sachzwängen gebundenen „revisionistischen“ Regierungsführer von den Jusos distanzieren, geht auch — etwas weniger spektakulär — der Konflikt innerhalb der CDU/CSU weiter. Aber auch hier spitzen sich die Auseinandersetzungen auf eine Entscheidung zu.

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Gegenwind bekommen momentan Rainer Barzel und seine CDU in ziemlichem Ausmaße zu spüren. Der geschlagene Kanzlerkandidat versucht ihn für sich zu interpretieren: „Gegenwind braucht man beim Starten und Landen.“ Er erwartet sich von der momentanen Krise der CDU eher Auftrieb. Politische Beobachter allerdings meinen, daß Barzel, der nach der Wahl vom 19. November 1972 deutlich den Boden unter den Füßen verloren hat, leicht in einen Abwind geraten könnte und ihn spätestens im Herbst auf dem Parteitag in Hamburg eine Bö endgültig hinwegfegen könnte. Denn aus immer mehr Landesverbänden der CDU und aus der Jungen Union mehren sich Stimmen, daß Helmut Kohl, Rheinland-pfälzischer Ministerpräsident und stellvertretender CDU-Vorsitzender, die besseren „Flugeigenschaften“ hätte und die Partei in Zukunft aus jenen Turbulenzen herausbringen könnte, die ihr. momentan so zu schaffen machen.

Noch gibt sich der „schwarze Riese“, wie Kohl nicht nur wegen seiner imposanten körperlichen Statur, sondern auch wegen seines Gewichtes innerhalb der CDU genannt wird, zurückhaltend und gelassen und schont Barzel. Aber dennoch wartet auf Barzel für den Fall eines Kohl-Sieges in Hamburg eine ungewisse Zukunft. Kohls kürzlich verwendete Formulierung, daß er dafür eintrete. Barzel auch in Zukunft die/ Möglichkeit zu lassen, „im Sinne der CDU Politik zu machen“, läßt viele Möglichkeiten offen. Vor allem bietet eine solche Aussage keine Gewähr dafür, daß Barzel nicht jenes harte Schicksal erleidet, das Verlierer in der CDU zu ertragen haben und von dem Kiesinger und Erhard ein Lied singen können. Es scheint unwahrscheinlich, daß eine Partei wie die CDU, die nach wie vor ihre Schwierigkeiten in erster Linie als Personalproblem begreift, mit Rainer Barzel schonender umgeht als mit seinen Vorgängern. Die Stimmen in der CDU, die Barzel als „verbraucht“ bezeichnen, und betonen, daß mit ihm kein Staat zu machen und keine Wahl mehr zu gewinnen sei, nehmen in einer für Barzel gefährlichen Weise zu.

Der umstrittene Rainer Barzel selbst tut dabei manches, was den Attacken gegen ihn neue Nahrung gibt. Fast scheint es, als verließen Barzel im Moment der Krise seine vielgelobten taktischen Fähigkeiten, indem er sich entschieden gegen eine Verfassungsbeschwerde gegen den Grundvertrag aussprach, riskierte er in einer kritischen Situation eine Kampfabstimmung in der Fraktion, die seine Schwäche offenbarte. Mit der Maßnahme, den Sozialexperten der Union, Hans Katzer, zum „Chefkoordinator“ zu machen, verprellte er so manchen in der Parteispitze. Im Fall der Verfassungsbeschwerde wollte Barzel selbst auf die Gefahr einer nur knappen Mehrheit zeigen, daß er sich durchsetzen kann. Im Falle Katzer versuchte er offenbar, sich die Unterstützung der „linken“ Sozialausschüsse zu vergewissern. Allerdings hat Kohl in dem Bundesgeschäftsführer der Sozialausschüsse, Norbert Blüm, dem er den Einzug in den Bundestag ermöglichte, ebenfalls einen Prominenten der CDU-Linken auf seiner Seite.

Egal, wer zum Parteivorsitzenden gewählt wird, so muß für Barzel eine gute Verbindung zu den Sozialausschüssen notwendig sein. Wenn auch ein Linksüberholen der SPD keine für die CDU mögliche und sinnvolle Politik wäre, so muß diese Partei doch aus der letzten Wahlniederlage die Konsequenz ziehen und sich darum bemühen, das Odium der Unternehmerpartei loszuwerden.

Die Unionsparteien haben aus der Wahlniederlage noch keine echten Konsequenzen gezogen. Die Diskussion über den Grundvertrag wird im Bundestag so geführt, als gelte es noch, ihn auszuhandeln. Die Schwierigkeiten mit der DDR werden von der Union nur zu einem aggressiven „Ätsch, wir haben es gleich gesagt“ genutzt. Das „pacta sunt servanda“ von Franz Josef Strauß hat noch nicht die Konsequenzen gefunden, wie CDU und CSU mit diesen Verträgen leben wollen. Auch wenn die Unionsfraktion den Grundvertrag im Bundestag ablehnt (und daran ist nicht zu zweifeln), muß sie, da der Vertrag trotzdem vom Parlament angenommen werden wird, eine Taktik finden, wie sie in Zukunft eine konstruktive Opposition betreiben will.

Auch in sozialpolitischen Fragen wird sich eine Änderung wohl ergeben müssen. Kohl deutete bereits an, daß er für eine Modifizierung der CDU-Haltung in der Mitbestimmungsfrage ist. Dieses Problem könnte zur Gretchenfrage für das Verhältnis der CDU zur CSU werden. Außerdem könnte diese Frage darüber entscheiden, für wen die „Rechten“ in der Union auf dem Hamburger Parteitag als Parteivorsitzenden votieren.

Als Kanzlerkandidat wäre Barzel wohl so oder so erledigt, wenn er in Hamburg unterliegt. Kohl äußerte sich zur Frage der Kanzlerkandidatur noch nicht und verweist darauf, daß bis dahin noch viel Zeit ist. Der einzige außer ihm und Barzel noch vorhandene ernsthafte Kandidat, Gerhard Stoltenberg aus Kiel, wird in der Union zwar sehr geschätzt, wegen seiner norddeutschen Kühle aber als Anwärter auf das Kanzleramt für ungeeignet gehalten, da er in den CDU-starken südlichen Bundesländern nicht richtig „ankäme“. Die Entscheidung über die Kanzlerkandidatur wäre dann ebenfalls eine Wahl zwischen Barzel und Kohl. Sollte Kohl in Hamburg gewinnen, scheint selbst diese Wahl fraglich, da es dann kaum denkbar wäre, daß ein anderer als Kohl die Union im Wahlkampf anführt.

Rien ne pese tant qu'un secret. (So schwer drückt nichts, wie ein Geheimnis drückt.)Lafontaine

Man könnte meinen, die beiden Oppositionsparteien wären unter der Last ihrer Geheimnisse, in Schlössern, Weinkellern, Bauernhöfen zusammengetragen, schon fast erstickt. ÖVP und FPÖ tun augenblicklich offenbar nichts so gern, wie „Geheimgespräche“ zu führen. Worum es bei alldem geht, ist klar; aber ob es etwas nützt, ist mehr als fraglich. Vor allem der ÖVP — dem zwar größeren, aber deswegen noch nicht stärkeren Geheimnisträger.

Denn wie die FPÖ-Herzen wirklich schlagen, wird selbst bei Geheimgesprächen nicht zu messen sein. Aber wenn wir schon bei den Klassikern sind, dann bemühen wir doch auch noch den guten alten Johann Wolfgang Goethe. Er hat den Geheimpartnern einen gar trefflichen Meisterreim schon vor zweihundert Jahren geschrieben: „Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen' Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht. Ich möchte Dir mein ganzes Innre zeigen — allein das Schicksal will es nicht...“

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