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TV-Kultur oder Chaos

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Fernsehen - Eine Herausfor derung, die wir nutzen odei versäumen? Eine rasante Entwicklung, von der wir un’j als Zuschauer emanzipierer müssen? EineZukunftschan ce für unsere Kultur?

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Fernsehen - Eine Herausfor derung, die wir nutzen odei versäumen? Eine rasante Entwicklung, von der wir un’j als Zuschauer emanzipierer müssen? EineZukunftschan ce für unsere Kultur?

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An kulturpessimistischen Betrachtungen über das Fernsehen besteht kein Mangel, ob wir uns als Fernseher mit Neil Postman angeblich nur „zu Tode amüsieren“ oder gar durch die Darstellung von Gewaltakten dazu animiert werden, selbst zu Gewalttätern zu werden. Umso mehr Beachtung verdient es, wenn ein durch die „Qualitätszentrifuge“ selbst oft in die Nachtstunden verbannter Mitarbeiter des ORF-Femsehens wie Wolfgang Kraus sich angesichts dieser Modewelle als Schwimmer gegen den

Strom präsentiert: mit seinem eben erschienenen fakten-wie gedankenreichen Sachbuch unter dem Titel „Neuer Kontinent Fernsehen“.

1992 werden wir das fünfhundertjährige Jubiläum der Entdek- kung Amerikas feiern. Der in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts entdeckte „neue Kontinent“ des Fernsehens ist dagegen laut Wolfgang Kraus „außerordentlich jung, zwar geboren und in atemberaubendem Wachstum, aber längst noch nicht fertig“ und „ein, zwei, vielleicht drei Dekaden puberaler Chaotik werden uns noch bevorstehen“.

Das hindert aber diesen Autor, der in seinen letzten Werken über den Nihilismus auch die „Geduld der Weltgeschichte“ und über Ideale auch die „Spuren des Paradieses“ erkannte, nicht, auf diesem „neuen Kontinent“ auch die von den Kulturpessimisten übersehenen Chancen eines der Kultur dienenden Mediums zu entdecken.

Das Kulturproblem der Massenmedien geht für ihn weit über die Kulturabteilungen hinaus. Die Behauptung, Bie seien „keine Erziehungsanstalten“, hält er schlicht- weg für falsch. Denn „der Einfluß der Massenmedien ist so umfassend und tiefwirkend, daß er jedenfalls erzieht - zum Sinnvollen, zu einer allgemeinen Kommunikation in Humanität, oder zu Deformation, zu Sadismus, Gewaltanwendung, zur Verherrlichung von Destruktion und Gemeinheit. Kraus ist also keineswegs blind für die Risken, die wir eingehen, wenn wir den „neuen Kontinent“ in der Manier von („Reichweiten“) - beutegierigen Konquistadoren betreten, er macht aber auch auf die Chancen aufmerksam, wenn wir ihn zur Hebung kultureller Schätze nützen, wenn das Publikum auf einer hinaufführenden „Programmtreppe“ auch das „Hinaufsehen“ erlernt.

An den technischen Möglichkeiten braucht die Wahrnehmung der Chancen nicht zu scheitern. Der „neue Kontinent“ Fernsehen erschließt nicht nur alle Kontinente, er gewährt uns auch einenBlick aus dem Weltraum auf unser Raumschiff Erde und macht - was selbst die schnellsten Transportmittel nicht vermögen - uns die gleichzeitige Präsenz an den verschiedensten Orten unserer Welt möglich. Das Kabelfernsehen, das neue Sendesystem D2 MAC, die mehrsprachige Satellitenabstrahlung, der Videorecorder mit selbstkopierten, geliehenen oder gekauften Programmen vergrößern den Spielraum dieser „größten Spielidee, die bisher auf der Welt aufgetreten ist“.

Ein Blick in die Kabelfemseh- programme oder in die Videoshops überzeugt freilich noch nicht, daß der „Reichweitenfetischismus" und die Spekulation auf das Geschäft mit der Gewalt und der Pornographie schon in naher Zukunft überwunden werden können.

Wolf gang Kraus beugt durch geschichtliche Perspektiven einervor- zeitigen Verurteilung des neuen Mediums Fernsehen von was sich in der antiken römischen Arena oder bis ins 19.Jahrhundert bei öffentlichen Hinrichtungen abspielte, war ja auch nicht gewaltfrei, ganz zu schweigen von Holocaust und Archipel Gulag und zwei Weltkriegen in der noch femsehfreien Vergangenheit.

Hätte Hitler „auf dem Bildschirm, in der Intimität des Zimmers“ eine Fernsehkamera gemacht? War nicht die erste freie Fernsehberichterstattung über einen Krieg wie in Vietnam ebenso wie die Teil- und Vollzensur über den Falkland-oder über den Afghanistankrieg ein Beweis dafür, daß Kriegsdarstellungen im Fernsehen dem Krieg nicht förderlich sind? Anderseits wird vom Autor nicht übersehen, daß „Strategien des Terrorismus auf die Interaktion des Fernsehens, aber auch der anderen Massenmedien angelegt und angewiesen“ waren.

Wolfgang Kraus läßt auch den Medienkritiker Karl Kraus zu Wort kommen, der nur die Zeitungen las und noch nicht vor dem „telefunk- tionalen Kaminfeuer“ saß. Die in der Nummer 404 der „Fackel“ gestellte Frage „Ist die Presse ein Bote?“ läßt sich aber auch für das Fernsehen stellen. Nach Karl Kraus ließ die Prasse den Eindruck entstehen, „daß Taten zuerst Berichte werden, ehe sie zu verrichten sind“.

An dieser Stelle wäre der Hinweis einzufügen, daß in noch größerem Maße als die Prasse das Fernsehen zur Tribüne für Ankündigungspolitiker geworden ist. Bestätigt doch auch Wolfgang Kraus, daß für die „Reaktion der Zuschauer nicht die Sache selbst, sondern die Eindrück- lichkeit dieser Personen maßgebend ist“ Das war zwar schon für den zur Zeit der Agora ansprachbarenKrais von Zuschauern und Zuhörern nicht anders, aber nicht von so weltweiter Bedeutung wie bei den Femsehpo- litikem Ronald Reagan und Michail Gorbatschow.

Die Frage, inwieweit das Fernsehen Politiker wirklich „demaskiert“,

wäre noch einer ausführlicheren Behandlung wert Demaskiert es auch den sich auf dieses Medium gekonnt einstellenden Entertainer und Talkshowmaster? Hat es den Schoninder Versenkung verschwun-

denen „Der Papa wird’s schon richten“—T^p demaskiert und wird es den noch aktuellen „Der Macher wird’s schon machen“-Typ und neu auf tauchende Populisten demaskieren?

Das Phänomen der Ein-Themen- Politik, des Verstärkereffekts durch den Politik-Medien-Verbund wird nur mit der Forderung gestreift, sich „trotzdem auf Themen einzulassen, die nicht optimal mit dem Fernsehen darzulegen sind“. Daß diese Forderung erfüllbar ist, beweist die Darstellung komplizierter und komplexer Themen in Wissenschaftssendungen des Fernsehens.

Für eine möglicherweise noch ferne Zukunftsetzt Wolfgang Kraus sowohl auf verantwortungsbewußte Programmgestalter als auch auf ein kritischer und anspruchsvoller werdendes Publikum. An Kriterien für verantwortungsbewußte Programmgestalter nennt er fünf- im vollenWortlaut nachzulesen auf den Seiten 64 und 65 des Buches:

• Die Beurteilung der Frage, „was historisch wichtig werden könnte“.

1 Die Bewertung eines Ereignisses nach der „Beeinflussung des Schicksales vieler Menschen“.

•Hinweise, diegeeignet sind, „ein Leben in Übung der Nächstenliebe und in einiger Zufriedenheit aufzubauen“ und die Frage, „was aus dem Berichtsangebot möglichst’ viele Menschen dem Erleben von Glück, Sinn und Wahrheit näherbringen kann“.

• Die Einsicht, daß, „was in Kitsch und Langeweile führt, auch der besten Absicht schadet“.

• Die Abkehr vom Prinzip, die „schlechte Nachricht sei die gute“, denn „Spekulation mit Negativität,

(Votava)

Katastrophen und Sensationen ist der Ausweis mangelnder Begabung und bringt kurzfristigen Gewinn“.

Fernsehanstalten sollten wie manche Regierungen, Universitäten, Banken oder Konzerne „jahrzehntelang investieren, ohne kurzfristig an den Geldgewinn zu denken“ und für die „geeignete Präsentation von Information, Bildung und weiterführender Taktik mancher Sendungen ähnliche Mühe auf wenden“ wie andere Institutionen für ihre Forschungsvorhaben.

Und ein nicht mehr von der Neuigkeit dieses Mediums fasziniertes, sondern femsehgewohntes Publikum sollte wählerischer sein und sich - nicht nur bei Quizsendungen -durch „Rückmeldungen" in Form von Telefananrufen, Briefen und bei den in Zukunft möglichen Retourleitungen stärker bemerkbar machen.

„Kultur oder Chaos“ lauten im

Untertitel dieses Buches die Alternativen. Für Wolfgang Kraus ist auch angesichts der noch oft chaotischen Zustände, zu der die „Erfolgsdynamik einiger privater elektronischer Medienstationen“ in anderen Ländemgeführthat, der Kulturauftrag des Fernsehens eine „Hoffnung“, die sich auf jene Menschen richtet, „die vernünftig denken und ideale Zielvorstellungen haben, diese aber nicht mit absolut erreichbarer Wirklichkeit verwechseln“.

Ob diese Menschen sich eines Tages selbst zu Femseh-Programm- Direktoren machen werden? Es ist zu hoffen, denn um einen klassischen Satz von Wolfgang Kraus zu zitieren “derKulturpessimisnushat den Nachteil, daß er verstärkt, was er zu beklagen scheint.“

Der Autor, Staatssekretär a.D., ist Publizist und war bis Ende 1968 Chefredakteur des Wirt- •chaftsverlagea.

NEUER KONTINENT FERNSEHEN. Kultur oder Chaos. Von Wolf gang Kraus. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1969.144 Seiten, kart, öS 115,40

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