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Typischer Grenzgänger der Wissenschaft

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Graz, Sommer 1876. So etwas haben die Straßenpassanten noch nicht zu sehen bekommen: ein korpulenter Mann mit Gehrock und Gamaschen. Anfang 30, der mitten in der Stadt eine Kuh vor sich her treibt. Seiner streng korrekten Kleidung nach könnte er ein Gelehrter sein. Fasching ist lange vorbei - was also soll das Spektakel?

Auf einem kleinen Bauemhof am Stadtrand, im Ortsteil Oberkroisbach auf der „Platte", ist Endstation: Um täglich mit Frischmilch versorgt zu sein, hat sich der Herr Professor eine Kuh zugelegt. Jetzt muß er nur noch seinen Kollegen von der Zoologie konsultieren, um sich in der Kunst des Melkens unterweisen zu lassen.

Ludwig Boltzmann, das Genie aus der Wiener Vorstadt.

Mit Tieren hat er sich schon als Kind beschäftigt: Eine Schmetterlings- und Käfersammlung ist sein ganzer Stolz. Diese Leidenschaft fürs Sammeln, fürs Vergleichen und fürs Systematisieren wird seinen gesamten Lebensweg als Wissenschaftler begleiten; seine ebenso revolutionären wie folgenreichen Denkleistungen zur Evolutionslehre, zur Erkenntnistheorie und zur Statistik sind ohne diesen Hang zum naturkundlichen Feinstudium nicht vorstellbar.

Freilich zahlt er dafür einen hohen Preis: Durch das nächtelange Arbeiten bei Kerzenlicht ruiniert Boltzmann sich die Augen. Gegen Ende seines Lebens wird er zum Lesen nicht weniger als drei Brillen brauchen.

Gleiches gilt für die Pflanzenkunde: Als leidenschaftlicher Naturmensch bricht er zu keiner seiner Wanderungen ohne die geliebte Botanisiertrommel auf. Lebende Pflanzen beobachtet er, tote fügt er seinem Herbarium ein. Und nicht etwa, um einem bloßen Sammeltrieb zu frönen, sondern um daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten und seinen Blick fürs Methodische zu schärfen. Im „allgemeinen Lebenskampf der Lebewesen" wird Boltzmann als Mann von

fünfzig seine kühnen Theorien voll bestätigt finden.

Noch eine zweite Leidenschaft nimmt ihn gefangen: die Musik. Anton Bruckner persönlich hat dem Fünfzehnjährigen den ersten Klavierunterricht erteilt; als reifer Mann wird er sogar eine vielstrophige Ballade dichten, um der geliebten „Tonkunst" zu huldigen: ,3eethoven im Himmel".

In der Literatur ist es der „Sturm und Drang"-Geist Friedrich von Schillers, der ihn für sein Leben prägt. Keine der großen Klassikeraufführungen des Burgtheaters läßt er aus. Selbst den Studenten schwärmt er von seinem Lieblingsautor vor - und von seinem Lieblingsschauspielen Joseph Kainz. Eine seiner Vorlesungen über Röntgenstrahlen endet mit den Worten: , Joseph Kainz als Carlos ist ganz wunderbar!"

Dichterworte werden ihn durch all sein Schaffen begleiten, die Werke dieses typischen Grenzgängers der Wissenschaften lesen sich wie ein einziger Zitatenschatz. Nur auf seinem Grabstein - da wird's formelhaft streng: Über der imposanten, von Gustinus Ambrosi modellierten Marmorbüste ist jene berühmte Gleichung in den Stein gemeißelt, die einen seiner vielen Bewunderer, seinen Schüler Felix Ehrenhaft, zu dem Ausspruch

hinreißt: „War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb?"

Was hat uns Menschen des High-Tech-Zeitalters an der Schwelle zum dritten Jahrtausend dieser Ludwig Boltzmann zu sagen?

Werfen wir einen Blick in eine Produktionsstätte für Mikroprozessoren, die bekanntlich das Kernstück jedes Computers bilden. Billionen von Daten steuern die sogenannten „Chips", -damitTelefonverbindungen zustande kommen,

- damit Eisenbahnzüge nicht kollidieren,

-damit Wettersatelliten ihre Umlaufbahn einhalten.

Kein Fernsehapparat kommt ohne sie aus, kein Videorecorder, keine Stereoanlage, aber auch kein Mikrowellenherd, keine Quarzuhr, keine Kamera.

Bereits ein Jahrhundert vor dem Anbruch der Computer-Ära, die unser aller Leben so total revolutioniert hat, formuliert Ludwig Eduard Boltzmann jenes physikalische Gesetz, das dieses technische Wunder ermöglicht: mit seiner „Transport-Theorie", 1872 in Wien. Das Tor zur High-Tech-Welt der Mikrochips und Halbleiter, der Hochleistungsprozessoren und Computer ist aufgetan.

Doch das eigentliche „Markenzeichen", das sich für alle Zeiten mit dem Namen Boltzmann verbindet (so wie die „Relativitätstheorie" mit dem Namen Einstein oder die „Quantentheorie" mit dem Namen Planck), ist die Entropie. Als er im Jahr 1900 einem Ruf an die Universität Leipzig folgt, sagt Boltzmann - in Anspielung auf seinen dortigen Konkurrenten Wilhelm Ostwald, der sein Haus auf den Namen „Villa Energie" getauft hat: „Nach berühmtem Muster könnte ich mein Haus ,ViIla Entropie' nennen."

Was hat es mit diesem geheimnisvollen Begriff auf sich? Lassen wir Ludwig Boltzmann selber sprechen:

„Der allgemeine Lebenskampf der Lebewesen ist nicht ein Kampf um die Grundstoffe - diese sind in Luft, Wasser und Erdboden im Überfluß vorhanden -, auch nicht um Energie,

welche in Form von Wärme, leider unverwandelbar, in jedem Körper reichlich vorhanden ist, sondern ein Kampf um die Entropie."

Wer ist dieser Wegbereiter der modernen Physik, dem - hätte es ihn schon damals gegeben - der Nobelpreis sicher gewesen wäre und dem, auf der Höhe seines Ruhms, Kaiser Franz Joseph das Ehrenwort abnimmt, niemals wieder einer Berufung ins Ausland Folge zu leisten, sondern der Heimat treu zu bleiben?

Universität Graz, 1876. Ludwig Boltzmann, 32 Jahre alt, übernimmt den Lehrstuhl für Experimentalphysik. Die Thermodynamik ist sein Spezialgebiet. Einer der Begriffe, auf die er bei seiner Arbeit laufend stößt, ist die „Entropie" - sein deutscher Fachkollege Rudolf Clausius hat ihn elf Jahre zuvor geprägt.

Wie so viele geniale Erkenntnisse ist auch diese von verblüffender Einfachheit: Läßt man etwa einen frisch

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Der allgemeine Lebenskampf der Lebewesen ist nicht ein Kampf um die Grundstoffesondern ein Kampf um die Entropie...

zubereiteten Kaffee länger stehen, so kühlt er ab. Niemals aber wird er sich von selbst wieder erhitzen: Wärmeprozesse verlaufen immer nur in die eine Richtung, sind unumkehrbar, irreversibel.

Oderein anderes Beispiel: Läßt man ein Parfümflacon unverschlossen, so entweichen die Duftessenzen und verteilen sich im Raum. Niemals aber werden sie von selbst in das Gefäß zurückkehren. Wieder, solch ein unumkehrbarer Vorgang. Und in dem Begriff„Entropie" ist das Maß dieser Unumkehrbarkeit ausgedrückt.

Boltzmanns VorgängerClausius erkennt die Gültigkeit dieses Prinzips

nur für den Bereich der Wärmelehre. Boltzmann hingegen gibt ihm eine entscheidende, ja revolutionäre Wendung: Er leitet daraus ein allgemeines Naturgesetz ab.

Alles, vom einfachen Atom bis zum höchstentwickelten Lebewesen, gibt permanent Energie ab - unumkehrbar. Am Ende stehen äußerste Unordnung, Verwesung, Tod. Das Maß dieser Unordnung nennt Boltzmann ., Entropie ". Und noch etwas: Er kann dieses Maß auch errechnen. Exakt errechnen. Das Mittel, dessen er sich dabei bedient, ist die Statistik.

1877 ist es soweit: Der ordentliche Professor für Experimentalphysik an der Karl-Franzens-Universität zuGraz übergibt seine Forschungsresultate in den Sonderberichten der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften der Fachöffentlichkeit. Der weltberühmte Physiker Max Planck, Begründer der Quantentheorie, wird sie in die Formel „S = k log W" fassen. Ein 32jähriger Österreicher hat der Physik der Neuzeit ungeahnte neue Perspektiven eröffnet. Albert Einstein, der als Student nach Boltzmanns Lehrbüchern Physik gelernt hat, wird ein übriges tun und in späteren Jahren sogar den Begriff „Boltzmann-Prin-zip" prägen.

Aber nicht nur die Fachwelt huldigt dem Genius Boltzmanns. Oder gäbe es einen eindrucksvolleren Beweis für die Faszination, die bis zum heutigen Tag von den Denkleistungen dieses Mannes ausgeht, als den 1990 erschienenen Weltbestseller „Inscial-lah" der italienischen Starautorin Oriana Fallaci, die - am Beispiel des Schicksals eines italienischen UNO-Kontingents im Libanonkrieg- Boltzmanns Entropiesatz zum Leitmotiv erhebt? So wie ihr Kollege Umberto Ecodas „Foucaultsche Pendel", führt Oriana Fallaci das ,3oltzmann-Prin-zip" in die Romanliteratur ein: als „Formel des Lebens"...

Erster Teil des Beitrags über Ludwig Boltzmann aus dererfolgreichen, sechsteiligen Fernsehserie,.Köpfe. Das Rätsel der Wissenschaft", die der Österreichische Bundesverlag nun in Buchform herausbringt: KÖPFE. Porträts der Wissenschaft. Von Dietmar Grieser. ÖBV, Wien 1991. 144 Seiten, öS 248,-.

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