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Tyrannei, Revolution und die Christen

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Elf Jahre lang lebte der Steirer Anton Lukesch als Forscher und Missionar unter brasilianischen Indianern. Lukesch kennt aber nicht nur Brasilien: Er hat die meisten lateinamerikanischen Staaten bereist und dabei einen besonderen Einblick in die gesellschaftlichen, insbesondere auch die pastoralen Probleme dieses politisch und sozial brodelnden Halbkontinents gewonnen. Seine Erfahrungen hat Lukesch in dem Buch „Spannungsfeld Lateinamerika" (Styria- Verlag) niedergeschrieben, aus dessen Kapitel „Gewalt" wir hier zitieren:

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Elf Jahre lang lebte der Steirer Anton Lukesch als Forscher und Missionar unter brasilianischen Indianern. Lukesch kennt aber nicht nur Brasilien: Er hat die meisten lateinamerikanischen Staaten bereist und dabei einen besonderen Einblick in die gesellschaftlichen, insbesondere auch die pastoralen Probleme dieses politisch und sozial brodelnden Halbkontinents gewonnen. Seine Erfahrungen hat Lukesch in dem Buch „Spannungsfeld Lateinamerika" (Styria- Verlag) niedergeschrieben, aus dessen Kapitel „Gewalt" wir hier zitieren:

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Bei der Darstellung der Situation der lateinamerikanischen Völker reden die Bischöfe in Puebla (mexikanische Stadt, in der 1979 die Dritte Lateinamerikanische Bischofskonferenz stattfand) davon, daß dort häufig fundamentale Grundrechte der Menschen -Leben, Gesundheit, Erziehung, Arbeit - nicht respektiert werden und sie sich im Zustand einer permanenten Verletzung der Würde der Person befinden.

Sie zählen Zustände auf, die für die Gewaltregime typisch sind und einen Mißbrauch der Macht darstellen. Es gibt systematische-und selektive Unterdrückung, Denunziationen, Verletzung der privaten Sphäre, Amtsmißbrauch, Folterung, Zwangsexil, Not in vielen Familien durch das Verschwinden eines ihrer Lieben, von dem sie keinerlei Nachricht mehr haben. Es herrscht Unsicherheit durch Verhaftung ohne richterlichen Befehl, Not,einer Justiz, die unterdrückt oder behindert wird. Arbeitern wird oft verboten (bzw. sie werden gehindert), sich zu organisieren und ihre Rechte selbst zu verteidigen. t

Aus einer authentischen Verpflichtung seitens des Evangeliums ist die Kirche verpflichtet, ihre Stimme zu erheben, indem sie diese Situationen offenbart und verurteilt, umso mehr, wie Johannes Paul II. sagte: „In Lateinamerika, wo die Verantwortlichen sich selbst als Christen bezeichnen." Die Kirche muß für jene die Stimme erheben, die keine Stimme mehr haben (vgl. Puebla 41-42, 531, 1268).

Puebla spricht von der Not durch Gewalt der Guerilleros, des Terrorismus und der Geiselnahme, die von Extremisten ausgeführt werden und das Zusammenleben sehr erschweren (vgl. Puebla 43, 532). Auch hier muß die Kirche als Expertin der Menschlichkeit ihre Stimme erheben ...

Die Kirchen, die Priester, die Christen müssen sich, dem Beispiel des Herrn folgend, gerade der Ärmsten und Verfolgten annehmen, sich mit ihnen solidarisch erklären und danach handeln. Sie werden in die Leiden, Sorgen und Probleme ihrer Mitmenschen, in ihre Sehnsucht nach Freiheit, ihre getäuschten Erwartungen hineingezogen ... Sie werden hineingezogen in das Gären unter dem breiten Volk, das man als die revolutionäre Situation Südamerikas bezeichnet hat.

Gerade die sogenannten engagierten Christen, die das Leid ihrer Menschen sehen und mit den Bemühungen, mit Aktionen zur Veränderung der ungerechten Gesellschaft beginnen oder schon begonnen haben, die Menschen, die im wörtlichen Sinn des Herrenwortes Gefangene besuchen, sind der Versuchung ausgesetzt, sich radikalen Gruppen, selbst atheistischen Ideologien (Marxismus) anzuschließen, die sich dem Sturz der bestehenden Ordnung, dem Sturz des Regimes, des Systems, verschrieben haben.

Jedenfalls taucht auch in den christlichen Gemeinden und Gemeinschaften bei Gesprächen und oft leidenschaftlich geführten Diskussionen die Frage der moralischen Rechtfertigung der Anwendung von Gewalt auf, wenn diese zur Herstellung einer gerechten Gesellschaftsordnung führen soll.

Dabei wird häufig das Rundschreiben Pauls VI. „Populorum progressio" zitiert. Hier anerkennt der Papst offenbar auch mit dem Blick auf Lateinamerika eine revolutionäre Situation. Er sagt in Artikel 30: „Es gibt gewisse Situationen, deren Ungerechtigkeit zum Himmel schreit. Wenn ganze Völker, am Notwendigsten leidend, in einer solchen Zwangslage leben, daß sie nichts mehr tun und lassen können, keine Möglichkeit des kulturellen Aufstieges haben, keine Möglichkeit am sozialen und politischen Leben teilzunehmen, dann ist die Versuchung groß, solches gegen die menschliche Würde verstoßende Unrecht mit Gewalt zu beseitigen."

Hier ist „Gewalt" im weitesten Sinn verstanden, im Sinne des aus Südamerika (Kolumbien) stammenden Begriffes von „violencia", der auch Terrorakte, wie etwa die von Anarchisten und alle Aktionen von Guerillakämpfern, einschließt. Sie wird als Versuchung, also als ein Übel, gesehen.

Das weiteste Echo hat aber der folgende Artikel des Rundschreibens ausgelöst. Aber auch hier macht sich der Heilige Vater keineswegs zu einem Fürsprecher dieser Gewalt, im Gegenteil. Er sagt in Artikel 31: „Trotzdem, jede Revolution" (der Heilige Vater spricht hier nicht von Gewalt, sondern vom revolutionären Aufstand) „zeugt neues Unrecht, bringt neue Störungen des Gleichgewichtes mit sich, ruft neue Zerrüttung hervor. Man kann ein Übel nicht mit einem größeren vertreiben."

Er weist damit auf ein Phänomen hin, das der brasilianische Erzbischof Dom Helder Camara mit „Spirale der Gewalt" bezeichnet.

Der Heilige Vater macht in dem zitierten Artikel 31 aber eine Ausnahme von seiner grundsätzlichen Einstellung gegen jede Revolution für den „Fall" der eindeutigen und langdauernden Gewaltherrschaft, welche die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes schadet. In diesem Fall wäre also, auch moralisch die Möglichkeit zwar nicht jeder Gewaltanwendung, einer Eskalation der Gewalt, aber die einer Revolution, eines revolutionären Aufstandes gegeben.

Die Dokumente von Medellin (II. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopates, 1968) interpretieren, wie bereits erwähnt, die Situation der Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit, von der auch der Heilige Vater spricht, für viele Gebiete Lateinamerikas. Hervorgerufen ist sie durch die Unzulänglichkeit der Strukturen, der industriellen und landwirtschaftli-' chen Unternehmungen, der nationalen und internationalen Wirtschaft, des kulturellen und politischen Lebens als institutionelle Gewalt.

Diese Unzulänglichkeit der Institutionen ist wieder dadurch bedingt, daß sie inspiriert und dominiert sind vom Machtstreben, vom Egoismus der privilegierten Schichten. Und diese Strukturen rufen dann eine Situation der Sünde, der Ungerechtigkeit hervor, die sie verewigen. Da es nach dieser Auffassung bleibende Institutionen sind, deren Struktur die Gewalt, die Unterdrückung, die Verletzung der Menschenrechte bewirken, würde es sich bei ihnen auch immer um eine langdauernde Gewaltherrschaft im Sinne des zitierten Artikels 31 handeln, gegen die eine Revolution moralisch gerechtfertigt sein könnte.

Die moralisch zu rechtfertigende Revolution, der Aufstand auch mit Hilfe der Waffen gegen eine „eindeutige lange dauernde Gewaltherrschaft, welche die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes gefährlich schadet", unterliegt denselben Kriterien wie der gerechte Krieg. Sie kann ja den häßlichsten und grausamsten aller Kriege heraufbeschwören, den Bürgerkrieg.

Es müssen also alle friedlichen Mittel erschöpft sein. Es dürfen Übel und Leid, die der Aufstand heraufbeschwören kann, nicht schlimmer sein als die Ungerechtigkeit der gegenwärtigen Tyrannei, es muß die berechtigte Hoffnung auf Erfolg bestehen, dadurch eine gerechte und friedvolle Gesellschaftsordnung aufrichten zu können.

Schon ob die entsprechende Ausgangsposition gegeben ist, ist eine Frage des christlichen Gewissens dessen, der an der Revolution teilnimmt oder sie anführt. Auch die schlimmste Gewaltherrschaft und die ausnahmsweise moralische Möglichkeit einer Revolution ist kein Freibrief für jede Form der Gewalttätigkeit und für den Terror. Es handelt sich ja auch bei der gerechten Revolution um eine Form von Notwehr ...

Die Verteidigung muß auch nur durch diese Abwehr und durch sonst nichts möglich sein. Dieses Recht auf Notwehr und damit auch das Recht auf eine Revolution bei den gegebenen Umständen ist allein im Naturrecht begründet, in dem legitimen Recht auf eine Erhebung des Volkes in einer Revolution zur Herstellung einer gerechten Gesellschaft, es besteht aber keine Pflicht zur Notwehr und keine Pflicht zu einer Revolution. Die höhere Gesinnung des Evangelismus der Liebe (Mt 5,39; Rom 12,19) verkündet das Ideal der Liebe und Gewaltlosigkeit.

Die wiederholten leidenschaftlichen Appelle der Kirche und des Heiligen Vaters für Gewaltlosigkeit und Evolution nicht im Sinne eines heuchlerischen harmlosen Reformismus, sondern im Sinne eines friedlichen durchgreifenden Wandels stehen zur Möglichkeit einer moralisch gerechtfertigten Revolution daher nicht im Widerspruch.

So verwirft Paul VI. in seiner Enzyklika „Evangelii nuntiandi" erneut Gewalttätigkeit und Tyrannenmord, wenn er darin in Artikel 7 sagt: „Die Kirche kann nicht die Gewalttätigkeit, vor allem nicht die Waffengewalt - die unkontrollierbar ist, wenn sie entfesselt wird - und auch nicht die Tötung von irgend jemandem akzeptieren, denn sie weiß, daß die Gewalttätigkeit immer Gewalt hervorruft und unwiderstehlich neue Formen der Unterdrückung und der Sklaverei, die oft noch drückender sind als jene, von denen sie zu befreien vorgibt."

Für den Christen wird immer der gewaltlose Widerstand gegen Tyrannei und der gewaltfreie Einsatz zu entscheidenden Veränderungen an der Gesellschaft der ideale Weg zur Herstellung der Gerechtigkeit sein. Das Verstehen der Not des Volkes ist notwendig durch eine Analyse und ein tiefes Begreifen, und die stärkste Waffe im Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit ist und bleibt die Wahrheit.

Die Oberhirten und Bischöfe Lateinamerikas machten sich (in Medellin) die hoffnungsvollen Worte Pauls VI., die er am 22. August 1968 zu den Neupriestern von Bogota sagte, zu eigen. „Wir werden fähig sein, ihre Ängste (die Ängste und Leiden des unterdrückten Volkes) zu verstehen und sie zu wandeln. Nicht in Haß und Gewalt, sondern in die starke und friedliche Energie der konstruktiven Werke."

Auszug aus: SPANNUNGSFELD SÜDAMERIKA, Forschungen, Fakten, Fragen. Von Anlon Lukesch. Verlag Styria Graz - Wien - Köln 1980, 304 Seiten, öS 280.-

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