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Uber Österreich nach Europa
Eine von Bevormundung freie Geschichtsforschung in Ungarn ist längst davon abgegangen, die k. u. k. Monarchie nur als Völkerkerker darzustellen, in dem auch die Ungarn nationale Minderheiten mit ihren hochentwickelten Kulturen unterdrückten beziehungsweise der magyarische Adel das Agrarproletariat schamlos ausbeutete.
Eine Gruppe von Historikern, an der Spitze der Geschichtsprofessor Ferenc Glatz, Chefredakteur der Zeitschrift „Historia“, hat an einem in Kürze erscheinenden Sammelband „Die Ungarn im Karpatenbecken“ mitgearbeitet, in dem auch der Monarchie besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Der demokratische Sozialist Glatz will mit überholten ideologischen Gummiformeln nichts zu tun haben, die in den vergangenen Jahren auch dann noch verwendet wurden, wenn der betreffende Bereich überhaupt „noch nicht ausgewertet worden ist“. Den von sogenannten Marxisten so unwillig angerührten Ausgleich zwischen Ungarn und Osterreich im Jahre 1867 bezeichnet Glatz als „die einzige reale staatspolitische Lösung für alle Nationen des Raumes“.
Ungarn sei dadurch an Österreichs Seite noch fester in den mitteleuropäischen Kulturkreis beziehungsweise in dessen Arbeitsmarkt eingebunden worden. Die Konsolidierung habe nicht nur in der einheimischen Gesellschaft in hohem Maße Unternehmungsgeist geweckt, sondern auch westliches Kapital ins Land gezogen.
„Die Entwicklung des Eisenbahn- und Straßennetzes beziehungsweise der industriellen Infrastruktur erlebte einen außerordentlichen Aufschwung“, so Glatz zur FURCHE. „Um die, Jahrhundertwende benützten die ungarischen Bauern die gleichen Dreschmaschinen wie die österreichischen.“
Die Erstarkung der bürgerlichen Gesellschaft setzte mit ihren komplizierten Mechanismen die Einsprachigkeit in der Verwaltung der jeweiligen Reichsteile voraus. Aber genauso war die Beseitigung gewisser im Feudalismus noch statthafter lokaler Autonomien und Privilegien notwendig. Das 1906 eingeführte allgemeine Wahlrecht ließ separatistische Bestrebungen unter den Nicht-Deutschsprachigen in Österreich erstarken. Im ungarischen Königreich traten diese Kräfte erst 1918 offen zutage.
„Die damalige Führungsschicht, war diesen Kräften gegenüber nach einem verlorenen Krieg, inmitten der politischen Demokratisierungswelle, nicht gerüstet“, so Glatz.
Nach seinem Konzept hat Ungarns Fall, das heißt der Sturz der Monarchie, den verschiedenen Nationaütäten zum Teil die Möglichkeit zur Selbstorganisation in der Muttersprache beziehungsweise zur Befriedigung ihrer nationalen Wünsche wohl gegeben. Doch „dadurch zerbrach ein für allemal das System des Austausches von Arbeitskraft und von Fachkenntnissen unter den einander ergänzenden wirtschaftlichen Gebieten. An die Stelle des Elends der einzelnen Volksgruppen trat das soziale und kleinstaatliche Elend.“
Glatz weist in diesem Zusammenhang noch auf den nach dem Zweiten Weltkrieg gehegten Wunschtraum einer mitteleuropäischen Konföderation hin, der nicht nur an lokalen Nationalismen, sondern vor allem „an der Großmacht Sowjetunion“ gescheitert sei.
Die Monarchie war eine mitteleuropäische Chance. Sie scheiterte an einem verlorenen Krieg. Und in einer solchen Lage kann der Fortschritt von selbsternannten Volkserlösern, von Möchtegernpolitikern, von fanatischen Nationalisten und rollenhungrigen Reaktionären auf Jahrzehnte zurückgeworfen werden. Das ist vielleicht die tragischeste Lektion von 1918.
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