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Über das Leben selbst verfugen

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Michel Salomon stellte für sein Buch „Die Zukunft des Lebens“ namhaften Wissenschaftlern, darunter mehreren Nobelpreisträgern, unter anderem die Frage, ob Euthanasie (siehe Stichwort Seite 2) ihrer Meinung nach Bestandteil einer Moral der Zukunft sein wird. Im folgenden werden einige der Antworten auszugsweise wiedergegeben.

Ich glaube, daß die Euthanasie zu jenen Fragen gehört, die es dem ruhigen westlichen Gewissen ermöglichen, sich und die öffentliche Meinung von echten Problemen abzulenken… Global gesehen, wird die Euthanasie an den unterentwickelten Völkern bereits vorgenommen. Die Kriege, die Völkermorde, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sind viel grundlegendere Probleme als das der Euthanasie.

Es hängt davon ab, welchen Sinn Sie dem Wort „Moral“ geben. Faßt man das Wort Moral, wie es manchmal vorkommt, in sozialem Sinn auf, so daß es sich also um eine Art Sozialhygiene handelt, ist die Antwort positiv. Sozialpolitische Zwänge könnten die Machthaber dazu veranlas

sen, die Euthanasie, die Beseitigung Unheilbarer und Behinderter, als für die Gesellschaft gut anzusehen.

Versteht man das Wort Moral im geläufigen Sinn, ist die Antwort indifferent. In der Medizin wird die Pflicht des Therapeuten von zwei Geboten beherrscht: dem Schutz des Lebens und der Nächstenliebe. Und hier kann man den bewundernswerten Satz von Paracelsus zitieren: „Die ganze Medizin ist Liebe.“ Es handelt sich also nicht darum, vom Staat aufgestellte Regeln zu befolgen, sondern unter Berücksichtigung dieser beiden Gebote jedesmal das Bestmögliche zu tun.

Ich habe den Eindruck, daß es hier zwei Extreme gibt. Kindesmord war zum Beispiel nicht nur in China eine ziemlich weitverbreitete Maßnahme. Vor nicht allzulanger Zeit, im 19. Jahrhundert, setzte man in Frankreich sehr oft Kinder aus. In Paris wurden viele einfach auf die Straße geworfen und ein nicht unbeachtlicher Prozentsatz bei der Geburt getötet. Und das in einer Gesellschaft, die sich als christlich bezeichnete. In Wirklichkeit hatte keine Gesellschaft jemals uneingeschränkte Achtung vor dem Leben. Hingegen bestand manchmal eine Kluft zwischen dem behaupteten Respekt vor dem Leben und den Tatsachen.

Die Euthanasie wird eines der wesentlichen Instrumente unserer zukünftigen Gesellschaften sein, wie immer diese auch ausse- hen mögen… Die Logik des Sozialismus ist die Freiheit, und die grundlegende Freiheit ist der Selbstmord; folglich ist das Recht auf direkten oder indirekten Selbstmord in dieser Gesellschaftsform ein absoluter Wert. In einer kapitalistischen Gesellschaft dagegen werden Tötungsmaschinen auftauchen, Prothesen, die es ermöglichen, Leben auszulöschen, wenn es zu unerträglich oder wirtschaftlich zu aufwendig geworden ist, und diese Maschinen werden gang und gäbe sein. Meiner Meinung nach wird also die Euthanasie, egal ob sie nun als Freiheitswert oder als Ware zählt, eine der Regeln der zukünftigen Gesellschaft sein.

Ich glaube, daß wir den Tod als Teil des Lebens begreifen lernen müssen und aufhören sollten, ihn als einen unerwarteten oder unerwünschten Einbruch zu betrachten. In gewissem Sinn könnte er auch als eine sehr schöne Befreiung gesehen werden, eine Art Erleichterung … Als zivilisierte

Menschen können wir uns sehr gut vorstellen, unseren Tod selbst zu wählen. Man kann sich fragen, warum so viele Menschen auf dieser Erde leben. Während wir einerseits die Geburten senken, begünstigen wir andererseits die Langlebigkeit. Wie sind diese beiden Haltungen miteinander in Einklang zu bringen? Ist das Wichtigste nicht die Lebensqualität? Welche Bedeutung hätte das künstliche Überleben eines Kranken, dessen Leben füi^ihn und die anderen keinen Sinn mehr hat?

Ja, ich persönlich bin dafür. Mehrere Ärzte müßten sich über diese Entscheidung einigen, um gemeinsam ethisch und kollegial die Verantwortung zu tragen, statt diese Entscheidung der Willkür eines einzigen Experten zu überlassen. Wenn ein Kranker im Endstadium zu sehr leidet, dann sollte man seinen Todeskampf auf schmerzlose Weise verkürzen dürfen… Es besteht der alte Grundsatz von der absoluten Achtung vor dem Leben. Lange Zeit gab es keine anderen Kriterien als diesen Begriff, der Respekt verdient, aber rein religiöser Herkunft ist. Heute verfügen wir über genügend Kenntnisse und Mittel, um dieses Problem in einem erweiterten Rahmen betrachten zu können. Wir können abschätzen, ob das Leben im Endstadium bestimmter Krankheiten noch lebenswert ist…

Ja, ich denke schon. Ich finde, daß wir das Recht haben sollten, unserem irdischen Leben ein Ende zu machen, und ich denke, daß der negative Beiklang, der den Selbstmord kennzeichnet, nur ein Überbleibsel alter Stammesbräuche ist… Die Moral ist einzig und allein von der Gesellschaftsform abhängig, in der die Menschen leben. Und genau das ist der Grund, weshalb wir unsere Moral aus der Sicht der Gesellschaft des 20. oder 21. Jahrhunderts neu überdenken sollten. Eine biologische Moral wird die Euthanasie beinhalten. Ich denke, daß der einzelne nicht mehr zu so brutalen Mitteln wie dem Gift oder der Pistolenkugel greifen wird müssen. Substanzen, die zu einem sanften Tod verhelfen, sollten demjenigen, der es verlangt, zur Verfügung gestellt werden.

Ich glaube, daß man vom heutigen Empirismus zu einer gewissen Kodifizierung übergehen wird, so wie es in allen vergleichbaren Situationen der Fall war.

Unsere Gesellschaft macht diesbezüglich ganz offensichtlich eine Veränderung durch. Als Beweis sei hier nur die kürzlich vollzogene Wandlung der Einstellungen und Gesetzgebungen hinsichtlich der Empfängnisverhütung oder der Abtreibung und die sicherlich bevorstehende Wandlung in der Euthanasiefrage erwähnt.

… ich denke vor allem an eine aktive Form der Euthanasie, bei der die Menschen auf eigenen Wunsch getötet werden oder man sie sterben läßt. Selbst das halte ich für sehr gefährlich, denn was man an einem Tag bei voller Klarheit und vollem Bewußtsein entschieden hat, braucht am nächsten Tag keine Gültigkeit mehr zu haben. Und wenn man darüber hinaus die Leute nach ihrer Zustimmung zur Euthanasie fragt, übt man bereits Druck auf sie aus oder regt sie sogar äazu an, den Tod zu wünschen. Infolgedessen könnten viele Menschen Angst davor haben, sich ins Krankenhaus oder zum Arzt zu begeben, weil sie zu den medizinischen Institutionen kein Vertrauen mehr haben … Die Euthanasie ist eine Frage der sozialen und individuellen Ethik …

Jacques Attali: Universitätsprofessor für Wirtschaftswissenschaft (Paris); Jean Ber- nard: Direktor am Institut für Leukämie (Universität Paris); Christian de Duve: Direktor am Institut International de Patholo-

Se Molėculaire (Löwen), Nobelpreis 1974;

ans Krebs: Leiter des Laboratoriums für Stoffwechselforschung (Oxford), Nobelpreis 11953; Henri Laborit: Leiter des Eutonologie- Laboratoriums (Paris); Ilya Prigogine: Institut für Physik und Chemie der Freien Universität von Belgien, Nobelpreis 1977; Jonas Salk: Immunologe, der den Antipolioimpfstoff entwickelte (USA); Elie Shneour: Biochemiker, Professor an mehreren Universitäten (USA); Niko Tinbergen: Mitbegründer der Verhaltensforschung, Nobelpreis 1973.

Aus: „DIE ZUKUNFT DES LEBENS“. Von Michel Salomon. Zsolnay-Verlag, Wien 1981,443 Seiten.

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