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Über die Liebe zu Blumen

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Wann beginnt für mich nach Milliarden von Jahren der Entstehung unserer Erde der Mensch hervorzutreten? Nicht da, wo die ersten Feuerstellen beobachtet werden können, nicht da, wo die ersten Steinwerkzeuge entdeckt wurden, und auch nicht erst da, wo in den Höhlenzeichnungen der Mensch sich als Künstler zu erkennen gibt. Der Gedanke an jenen Neandertaler Mann, der vor rund 40.000 Jahren

lebte und den man in seinem Grab fand mit einer Blume in der Hand: Dieser Gedanke wärmt mich. So weit zurück also reicht die Freude an Blumen, an der Augenweide, an der Nahrung, die durch die Augen aufgenommen wird.

Es gibt viele Lebensfreuden, zu denen man unfähig wird, wenn man traurig ist. Man kann keine Musik mehr hören, kein Essen schmeckt mehr. Aber die Freude an Blumen, wenn sie uns geschenkt ist, wird uns nicht geraubt, sie begleitet uns durch die dunkelsten Zeiten unseres Lebens. Vielleicht sogar bis in die Nähe des Todes. Dieses Versprechen lese ich aus dem Gedicht von Gottfried Benn:

„Nimm die Forsythien tief in Dich hinein/und wenn der Flieder kommt, vermisch auch diesen/ mit Deinem Blut und Glück und

Elendsein/dem dunklen Grund, auf den Du angewiesen./ — Langsame Tage. Alles überwunden./ Und fragst Du nicht, ob Ende, ob Beginn,/ dann tragen Dich vielleicht die Stunden/noch bis zum Juni mit den Rosen hin."

Erklären kann ich es nicht. Ich beobachte: Ich sitze in dem großen, mit schweren Dienstmöbeln eingerichteten Arbeitszimmer eines Staatssekretärs, Politik drückt mit ihrem Gewicht, unbewußt suche ich nach Hilfe. Mein Blick bleibt hängen an einem Magnolienzweig, der mit noch fast ganz geschlossenen Blüten in einer Vase auf dem niedrigen Tisch steht. Und tatsächlich: da ich diesen Zweig betrachte, verwandelt sich der Raum, das Leblose weicht zurück, fast fröhlich vermag ich das Gespräch weiterzuführen. Eine einzige Osterglocke, in einem Wasserglas, kann helfen.

Erschrocken las ich über die Freude an Blumen bei dem kenntnisreichen chinesischen Autor Lin Yutang: „Die Freude an den Blumen muß ebenso wie die Freude an den Bäumen beginnen, daß man gewisse besonders edle Arten auswählt, ihre Stellung und Rangordnung bestimmt und jede Blume mit gewissen zu ihr passenden Empfindungen und Umgebungen in Beziehung bringt."

Besonders edle Arten — Stellung — Rangordnung? Nein, das denke ich nicht. Ich weiß, daß ich manchmal auf einem Spaziergang Halt gemacht habe, um ein Gänseblümchen zu betrachten. Sicher, ich erinnere mich auch an prächtigere Wiesenblumen: ein Sonntagmorgen im Juni, ein ansteigender Weg auf der Höhe am Bodensee und dann auf der Hügelkuppe die Sonne durch Mohnblüten hindurchscheinend. Oder am Abend, im Mai, der blaue Salbei wie illuminiert in der Dämmerung im hohen Wiesengras ...

Es gibt Menschen, die bitten, man solle ihnen keine Blumen schenken, sie könnten die Vergänglichkeit ihrer Schönheit nicht ertragen. Aber ihre Vergänglichkeit ist ja nur eine Einladung, sie gleichsam mit ausgebreiteten Armen zu betrachten, sie tief in sich hineinzunehmen, wenn Benn es beschrieben hat — dann sind sie ja jederzeit wieder vor meinem inneren Auge. So wie die Blumen im Garten meines Berliner Elternhauses.

Wenn ich unruhig bin, auch wenn ich nicht schlafen kann, gehe ich in Gedanken in diesem Garten spazieren. Meine Eltern hatten sich vorgenommen, daß ihre Kinder Bäume und Blumen von

klein auf kennen sollten. Darum pflanzte mein Vater so viele verschiedene Bäume in den Garten wie nur möglich, und meine Mutter legte Rabatten an, auf denen alle Blumen, die ihr einfielen, gepflanzt wurden, damit wir sie ganz genau kennenlernten in ihrer Jahreszeit und mit Blüten, Stielen, Blättern, als Knospen und voll geöffnet und als Frucht. Daher kommt meine Liebe zu den Schwertlilien und den Fliegenden Herzen und dem Rittersporn. Meine verstohlene Liebe zu Mal-ven kommt gerade umgekehrt daher, daß sie nicht bei uns im Garten standen, aber in den Bauerngärten in den märkischen Dörfern vor Berlin.

Ich frage mich manchmal, woher es kommt — ich kann das demoskopisch sehen —, daß mit den Lebensjahren die Liebe zur Natur und zu den Blumen immer weiter zunimmt. Liegt das an dem Gefühl der Geborgenheit in dieser Welt, wenn bei allem, was sich hastig wandelt, die Bäume, die Blumen so bleiben, wie wir sie auf unserem Schulweg als Kinder angesehen haben? Oder haben die Bäume, die Blumen doch etwas mit dem Paradies zu tun, dem sich der älter Werdende wieder nähert?

Aus dem Band „Das Glück liegt auf der Hand. ABC der Lebensfreuden", der demnächst im Verlag Herder, Freiburg, erscheinen wird.

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