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Digital In Arbeit

Über Verständigung

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„Schön, Sie wieder zu sehen, mein lieber Mensch“, sagte der Vogel, und das leichte Zittern seiner hängenden Schwingen zeigte, daß er sich wirklich freute. „Ich habe unsere Gespräche schon sehr vermißt!“

„Ich auch“, antwortete der Mensch. „Ich war mit meiner Arbeit vollauf beschäftigt, sonst wäre ich schon längst gekommen, um mich mit Ihnen zu unterhalten.“

„Ehrlich gesagt“, meinte der Vogel nachdenklich, „es wundert mich noch immer, daß Sie so gern Ihre Zeit mit mir verbringen. Sie haben doch so viele Menschentiere um sich, mit denen Sie reden können...

Bei mir ist es etwas anderes. Fast fünfhundert Jahre lang, mein ganzes Leben in der Freiheit, konnte ich nicht reden. Ich kannte keine Sprache, bis auf die wenigen Laute, die ich für die Verständigung mit meinem Weibchen und meinen Jungen brauchte.

Von den fünfzig Jahren hier in der Voliere brauchte ich mehr als fünfundvierzig, um eure Sprache zu erlernen. Ich bin ja schließlich kein Papagei, sondern ein alter großer Raubvogel; ich wollte auch nicht Wörter nachplappern, sondern alles verstehen.. Es war eine untierische Mühe!

Kein Wunder also, daß ich mich jetzt nicht sattreden kann. Und Sie sind mein einziger Gesprächspartner. Ich versuchte einmal, ein Menschenmännchen anzusprechen — der Mensch erschrak und rannte weg wie eine von Löwen verfolgte Antilope... Sie können hingegen mit jedem Ihrer Artgenossen sprechen!“

„Ach“, seufzte der Mensch, „wenn Sie wüßten, wie viele Menschen wie Papageien reden - nur um Laute zu produzieren. Oder um etwas zu wiederholen, was sie von anderen gehört haben...“

„Wirklich?“ wunderte sich der Große Vogel. Er dachte eine Weile nach und fügte hinzu: „Na ja, die Menschentiere hatten es nicht so schwer wie ich, die Menschensprache zu erlernen, deshalb schätzen sie sie nicht so hoch ein.

Sie wissen, daß ich keine sehr hohe Meinung von eurer Herdentierart habe, aber da habt ihr wirklich etwas, was euch von anderen Tieren unterscheidet. Die Sprache ist ein wunderbares Verständigungsmittel!“

„Wenn man sich verständigen will!“ meinte der Mensch mißmutig.

„Verstehe ich nicht! Warum sollte man denn sonst reden?“

„Um etwas zu verschleiern—vor allem die Tatsache, daß man nichts zu sagen hat.“

„Was ist heute mit Ihnen los, junger Freund?“ fragte der Vogel beunruhigt, aber nicht ohne Ironie. „Meistens greife ich die Menschen an und Sie verteidigen Ihre Art, heute ist es umgekehrt...“

„Ich benutze einfach meine Sprachfähigkeit dazu, meine Gedanken zu äußern“, entgegnete der Mensch. „Und ich will Sie nicht belügen.“

„Warum sollten Sie mich belügen?“

„Eben.- Ich will von “Ihnen nichts, und Sie wollen von mir nichts — außer, daß wir einen interessanten Gedankenaustausch pflegen. Wir sind nicht voneinander abhängig und haben keine Interessenkonflikte ...“

„Mir ist klar, daß sich die Sprache gleichermaßen für Lüge und Wahrheit eignet — sie ist ja schließlich nur ein Mittel. Wenn ein Menschentier aber das andere nicht belügen will - die Sprache selbst lügt doch nicht?“

„Mhm.“ Der Mensch wurde nachdenklich. „Vorausgesetzt, daß man dieselbe Sprache spricht...“

Der Vogel ärgerte sich: „Davon rede ich nicht. Ich weiß, daß es mehrere Menschensprachen gibt!“ Er hielt inne und schaute den Menschen ernst an. „Meinen Sie, daß dieselben Ausdrücke in derselben Sprache für einzelne Menschentiere unterschiedliche Bedeutung haben können?“

Der Mensch nickte zustimmend.

„Liegt es daran, daß die Menschen einen unterschiedlichen Wissensstand haben?“

Der Mensch stimmte zögernd zu.

„Na ja, mir ist auch schon so ein Irrtum passiert.“

Der Vogel trat von einem Fuß auf den anderen, was bei ihm Ausdruck der Heiterkeit war. „Vor einiger Zeit dachte ich schon, sie hätten mich belogen. Sie behaupten doch immer, daß Menschen einander nicht fressen — und vor einiger Zeit hörte ich, wie ein Zoo-Besucher erzählte, er wolle sich einen Hamburger und ein Paar Berliner zum Essen holen ... Ich kannte ja diese Wörter nur als Bezeichnungen der Einwohner zweier eurer Städte! Dann kam aber der Mensch mit den Speisen zurück zu meiner Voliere. Er hat mir sogar ein Stückchen Hamburger zugeworfen... Darf es eigentlich so sein, daß ein Wort zwei ganz unterschiedliche Dinge bezeichnet?“

„Nun“, lächelte der Mensch, „dies war ein ganz harmloser Fall, der nur einen Neuling in der Sprache wie Sie verwirren konnte. Es gibt kompliziertere und subtilere Mißverständnisse.“

„Heißt das, daß die mehr Wissenden die weniger Wissenden nicht immer verstehen?“

„Eher umgekehrt“, sagte der Mensch.

„Wieso? Wenn einer weiß, was er sagen will, und weiß, wie man es richtig sagt, muß er sich doch ganz klar ausdrücken.“

„Es sollte so sein“, meinte der Mensch trocken.

„Wenn ich richtig begriffen habe — am besten verstehen sich Menschentiere, die zusammenleben, sich lange kennen, also die gleiche Sprache sprechen, zum Beispiel ein Männchen mit seinem Weibchen?“

„Ja, wenn sie sich nach so langer Zeit noch etwas zu sagen haben“, sagte der Mensch etwas bitter; er fügte jedoch gleich hinzu: „In solchen Fällen versteht man sich aber meistens ohne Worte.“

„Wie ich mit meinem Weibchen. Ach“, der Vogel klapperte mit dem Schnabel, denn seufzen konnte er nicht, „bei euch ist nichts eindeutig. Die Sprache dient der Verständigung. Wenn sich aber zwei Menschentiere verstehen, brauchen sie keine Worte. Und wenn sie sich nicht verstehen, hilft das Reden auch nicht. Na ja!“

Aus: MEIN LIEBER MENSCH. Neue Gespräche mit dem Vogel. Von Gabriel Laub. Mit Zeichnungen von Marian Kamensky. Albrecht Knaus Verlag, München-Hamburg 1987. 160 Seiten, öS 187.20.

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