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Übergeschnappt?

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Altbundeskanzler Kreisky warnt seine Partei vor den Möglichkeiten der aus einer „präfaschistischen“ Zeit stammenden Bundesverfassung, auf deren Boden sich seit 1945 das gesamte staatliche Leben entfaltet hat! ÖVP-Generalsekretär Graff fällt (versehentlich) über ein Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde Wien her, das in New York um Mäßigung bemüht gewesen ist. Sigrid Löffler hofft im „profil“, daß möglichst viele ausländische Künstler Österreich boykottieren mögen. Sind wir alle übergeschnappt?

Der wiedergewählte Wiener SPO-Vorsitzende Gratz warf der ÖVP Ausbeutung von Antisemitismus und Fremdenhaß vor, aber auf demselben Parteitag mußten sich die Erfinder des Wiener Sozialhilfegesetzes vorhalten lassen, auf Fremdenablehnung spekuliert zu haben.

Alle diese Ungereimtheiten haben einen gemeinsamen Nenner: den Mangel an 'Bereitschaft; eigene fFeht--' verhalten und die Tatsache zuzugeben, daß es in jeder Partei Fremdenhasser, Antisemiten oder zumindest Bärenfellnaturen gibt, wo Mimosenhäute nötig wären.

Ein häufig gehörtes Argument lautet: ,Jch bin kein Antisemit, aber was da Ehrabschneider in New York sich leisten, muß beinhart zurückgewiesen werden!“

Diesen Menschen muß man erklären, daß dergleichen für jedermann gelten mag, aber nicht für Juden. Nicht für Menschen, denen angetan worden ist, was ihnen angetan wurde. Da sind Ausdrücke wie „ehrlose Gesellen“ und „beispiellose Niedertracht“ auch dann Mißgriffe, wenn sie objektiv die Wahrheit träfen.

Das ist schwer begreiflich zu machen, wenn auch auf jüdischer Seite das Einfühlungsvermögen unterentwik-kelt ist. Man reklamiert (zu Recht) besondere Rücksicht: Nach Auschwitz kann nichts mehr ins ,JNormale“ zurückgebogen werden. Aber schon über das Wort Jüdische Mitbürger“ ist man gekränkt, weil .Mitbürger“ Sonder Status signalisiere.

Wann werden wir wieder leidlich unbefangen miteinander reden können? Wann werden wir jüdischen Freunden gegenüber Ezechiel 1820 („Ein Sohn soll nicht die Schuld seines Vaters tragen und ein Vater nicht die Schuld seines Sohnes“) zitieren dürfen, ohne arroganter Zumutung geziehen zu werden?

Christen müssen zur Kenntnis nehmen, daß ihr sorglos gebrauchtes Wort vom „alttestamentarischen Haß“ eine Bibelverfälschung ist. Juden müßten an Christen glaubhaft finden, daß ihr Eintreten für Versöhnung nicht dem Ziel dient, Sühne für Verbrechen zu verhindern.

Die jüngsten Ereignisse in Polen haben die dramatischen Geschehnisse von Poznan (Posen) beinahe schon in Vergessenheit geraten lassen.

Es war an jenem 28. Juni 1956 — vor 30 Jahren —, wenige Monate nach dem legendären 20. Parteitag in Moskau, als in der bekannten Messestadt um acht Uhr früh plötzlich in allen Fabriken die Arbeit gestoppt wurde.

Eine gewaltige Demonstration von unzufriedenen Arbeitern setzte sich Richtung Stadtzentrum in Bewegung. Erste Protestrufe waren zu hören: ,ßrot und Freiheit!“

Die Konfrontation mit der Polizei wurde unvermeidlich.

Erste Schüsse fielen. 50.000 — meist junge - Leute belagerten regelrecht das Rathaus der Stadt. Das Auftauchen von Militär mit Panzern wirkte wie ein Schock auf die Menge.

Gegen Abend meldete Radio Warschau die Niederschlagung des Aufstands. 30 Tote und 24 Verwundete seien zu beklagen, hieß es von offizieller Seite. Augenzeugen sprachen dagegen von mehr als tausend Toten.

Das war das erste deutliche Aufbegehren der polnischen Nation gegen seine Machthaber. J. G.

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