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Überrollt von der Umgestaltung

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Können sich 100 Millionen Menschen dem Denkeinflußbereich des Kommunismus entwinden? Intellektuelle dachten in Wien darüber nach.

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Können sich 100 Millionen Menschen dem Denkeinflußbereich des Kommunismus entwinden? Intellektuelle dachten in Wien darüber nach.

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Der anpassungsfähige, infizierte Mensch sowjetischer Prägung ist nach den Worten des polnischen Botschafters in Wien, Wladyslaw Bartoszewski, in Mittel-Ost-Europa weiter verbreitet als man glaubt. Gegenüber der Furche betonte der Zeitzeuge, der am Dienstag im Rahmen eines Symposions der Osterreichischen Gesellschaft für Literatur „Intellektuelle gegen den Kommunismus" über den Umerziehungsprozeß der Menschen in den posttotalitären Staaten sprach, daß eine materiell bedingte Anpassungsfähigkeit des Menschen an politische Gegebenheiten verständlich sei. Heute müßten die Mensehen in Mittel-Ost-Europa -100 Millionen ohne die ehemalige Sowjetunion - „zu einem würdigen und freien Leben erzogen werden". Es gehe darum, „ihre Situation zu erneuern, was wahrscheinlich erst ihre Kinder werden bewerkstelligen können". Bartoszewski zur furche: „Der Faktor Mensch ist das wichtigste bei den heutigen gesellschaftlichen Umgestaltungen, der Mensch, der im Totalita-rismus in einer unklaren Verfassung gelassen und in die Irre geführt wurde."

Jetzt herrsche im Ex-Ost-n block eine allgemeine Ratlosigkeit der Parteien, Strukturen heranzubilden. Rußland sei ein Extrembeispiel dafür. Die Ex-DDR zeige, „wie Menschen in totaler Selbstsucht, in totaler sozialer Abhängigkeit weiterleben können". Was solle man da erst von der Slowakei, von Bulgarien, Rumänien, Polen und Litauen sagen? fragte Bartoszewski und fügte hinzu: „Früher waren die Menschen aufgebracht gegen die Kommunisten, heute sind sie nicht imstande, die notwendigen Opfer zur Umgestaltung des

gesellschaftlichen und politischen Lebens zu bringen."

Der Rußlandexperte Michael Voslenski, ebenfalls ein Referent des Wiener Intellektuellentreffens, bezeichnete daher die 89er Revolution als „unvollendete Revolution". Auf Rußland bezogen meinte er zur FURCHE: „Man kann nicht sagen, daß keine politischen Erschütterungen mehr kommen werden. Es ist nicht notwendig, an den Putschisten Rache zu nehmen, sondern die Demokratie ist konsequent durchzusetzen. Die posttotalitären Staaten stünden erst vor einer „demokratischen Revolution".

Der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski glaubt nicht „an eine Rückkehr der alten Geister", auch wenn man in Mittel-Ost-Europa merke, daß mit einer Veränderung des totalitären Staates „nicht gleich alles in Ordnung ist". Szczypiorski zur furche über die Stimmung der Polen: „Ihre ,Traumwaren' sind alle da, nur Geld ist keines vorhanden. Die Polen spüren, daß sie Bettler sind." Das demoralisiere die Menschen, ein Gefühl, das im Westen schwer nachvollziehbar sei. Die Belastung der Bevölkerung habe ihren Höhepunkt erreicht. Die Strukturen eines Staates könne man rasch verändern, nur langsam jedoch die menschliche Mentalität.

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