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Überschreiten von Grenzen

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Österreich ist das Land, ist der Kontinent, einzigartig, einmalig in der Welt, der schöpferische Menschen durch Exodus beseitigt. Man mag einwenden, daß neuerdings vor allem Rußland als ernstzunehmender Konkurrent auf dem Weltmarkt der Geister, auf dem die Allerbesten nicht „gehandelt", nicht diplomatisch verhandelt, sondern eben nur „behandelt" werden, Österreich zur Seite tritt.

Mir kommen gerade in diesen unseren häßlichen Zeiten immer wieder Menschen zu, die genüßlich auf Ausladungen, auf Ausbürgerungen von Künstlern und Wissenschaftern aus Ost-Landen verweisen, worauf ich ihnen gerne ein halbes Dutzend oder mehr von Österreichern nenne, hervorragende Köpfe, starke Geister, schöpferische Menschen, deren Namen sie nie gehört haben.

Um aus der Fülle der Vergessenen, „Übersehenen" zu schöpfen: wer weiß heute bei uns etwas von Otto Neurath (1882-1945), einem „der am meisten vernachlässigten Genies des 20. Jahrhunderts" (William M. Johnston)? Freunde und Gegner des „Wiener Kreises" der Philosophie kennen ihn noch, soweit er eben in ihr Vokabular und System paßt.

Daß dieser Otto Neurath sich früh um die Edition des „Faust" des Ludwig Hermann Wolfram bemühte, sich mit der Bedeutung der Ruthenen für die Beziehungen zwischen Rußland und Österreich interessierte, die Wiener Methode der Piktographie (die nach 1934 den Namen Isotopie erhielt) entwickelte - ein visuelles Alphabet — und, 1934 nach Den Haag, 1940 nach Oxford emigriert, noch als Konsulent Für Fragen der Slum-Beseitigung für die Stadt Bilston arbeitete, weiß man nicht^

Dieser große Otto legte seinen Schülern nahe, sich alle Fünf Jahre einer anderen Laufbahn zuzuwenden. Auf dem Wege einer Annäherung an den Otto, den ich hier anspreche, an Otto Graf, der von Haus aus Kunsthistoriker ist, erwähne ich kurz die Tatsache, daß eine ganze Branche, ein Zweig österreichischer Kunstgeschichte - Kunstphilosophie - ausgetrieben, nie wieder in Österreich angenommen wurde.

Das Lebenswerk des Anton Ehrenzweig (1908-1966), gipfelnd in „The Hidden Order of Art, A Study in the Psychology of Artistic Imagination" (späte Übersetzung, erschienen in München), des Ernst Kris (1900-1957) und des noch lebenden Ernst Gombrich (ein Freund übrigens von Fritz Wo-truba!) ist hierzulande unbekannt.

Diese drei fanden in England ein Re-fugium. Sie alle waren, sind Grenzüber-schreiter im mehrfachen Sinne: sie mußten die Grenzen des fragwürdigen Vater- und Mutterlandes Österreich überschreiten, und sie sind Grenzüber-schreiter, da sie in „das Ferne Land" -der Seele, und in andere Wissenschaften, ihre kühnen Schritte lenkten.

Exodus nach innen: Die Zweite Republik praktiziert vorzüglich den Exodus nach innen: sie lädt Künstler aller Art, Schriftsteller und eben auch Grenzüberschreiter in die Häuser der Wissenschaften ein, nach innen zu emigrieren, und hier ein mehr oder weniger freundliches Dasein in einer Kärntner Kate (die Lavant), in einem oberösterreichischen „Nest" (Namen von Autoren sind bekannt), aber auch im kleinen Toten Meer an der Donau, in Wien also, zu verleben.

Eine besonders signifikante Art, zum Exodus nach innen zu verhalten, anzuhalten, wird durch den Modus praktiziert: einem Menschen einen Job zu geben, dafür aber sein Lebenswerk, sein schöpferisches Lebens-Werk, „net amai zu ignorieren"!

Otto Graf: ein Grenzüberschreiter im Räume der Kunstwissenschaften, der Kunstphilosophie, der Spiritualität, der Geisteswissenschaften, in Österreich. Dieser Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Wien, der sich da in seinem „Institut für Kunstgeschichte" einhaust, ist von Haus das Kind eines Heizers und Chauffeurs der n.ö.-Landesregierung. Da man jetzt immer wieder hört, daß Niederösterreich sich offiziell auch den Künsten und der Kultur zuwendet, seien seine öffentlichen Herumsteher auf diesen Mann aufmerksam gemacht.

Graf hat vom Niederösterreichischen einen harten Bauernschädel, und vom Wienerischen eine Vielschichtigkeit, eine Mehrdimensionalität, die man heute noch gut an Wienern in Los Angeles, New York, London, Paris beobachten kann.

Studium der Kunstgeschichte, zwei Jahre am Institut für österreichische Geschichtsforschung, frühe Interessen für Paläontologie und Zoologie; 1964 scholarship in den USA: er nennt es seine „entscheidende Begegnung mit der Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts"; dann „wieder in Wien im Exil", als Kustos am Museum des 20. Jahrhunderts bis 1970; kurze Zeit Leiter dieses Museums; hier seine Ausstellung „Die Epoche des überfließenden Sehvermögens" ; seit 1971 an der Akademie der Bildenden Künste, seit 1978 Arbeit an einem Opus Magnum über Frank Lloyd Wright: „Geschichte einer vierfachen Freude" (bisher sind 880 Seiten im Selbstverlag, den er „Origenes" getauft hat, erschienen).

Erschienen sind, unter anderem: Otto Wagner 1882, und Katalog der Ausstellung im Historischen Museum, zuvor 1969: Die vergessene Wagner-Schule, „Die Erde ist also ein edler Stern", erschienen unter dem Titel „Was treibt den Menschen zu den Sternen" (Herder, Wien 1977). Geplant und dauernd im Kopf: „Der Tod der Zeit und die Zerstörung des Raumes, über den Untergang der europäischen Baukunst".

Dazu kommt dies: Otto Graf ist, zu seinem Leidwesen und zu seiner Freude, nicht nur Kunsthistoriker, Kunstdenker, sondern auch dies: ein spiritueller Essayist, der eines Tages als das ersehen wird, was er ist, sich ausweist durch die vielen tausend Seiten von „Lichte Nacht" (Beginn dieses seines Lebenswerkes 1973, er arbeitet ununterbrochen daran, ich bin überzeugt, auch im SchlaO: ein österreichischer Denker, ein österreichischer Frommer, ein österreichischer Zeit-(und Raum-)Kritiker, der im unzerstörbaren, immer präsenten Gastmahl der Geister, in diesem großen Symposion, als Tischgenosse von Pascal, Hamann, Lichtenberg, Lessing und eben einer guten Schar der In unserem Jahrhundert aus Osterreich ausgetriebenen Geister seinen Platz hat.

Ein Ärgernis also, ein Skandalon -im spirituellen Sinne. Es ist sinnvoll, daß sich unser Land, das sich genüßlich mit der Show von handfesten materiellen, politischen, persönlichen Skandalen und Skandälchen befaßt, sie nach den Sportberichten liest, nichts, buchstäblich nichts übrig hat für die Wahrnehmung dieses großen Skandalons: der totalen Verweigerung gegen das Lebenswerk schöpferischer Menschen, die Grenzüberschreiter sind.

Diese Tatsache ist ein Ausdruck des harten, tristen Faktums: es gibt kein österreichisches Geistesleben, denn das würde bedeuten: Begegnung, Konfrontation, Auseinandersetzung, Erwärmung und Erhitzung des eigenen Seelen- und Innenlebens eben im Zusammenstoß mit den Feuern, die von Menschen wie Otto Graf ausstrahlen: sanft und heftig, grollend, zorn-mütig und nächtlich-innig den Abgründen des deus absconditus, des verborgenen Gottes, und des homo absconditus, des verborgenen Menschen, zugewandt.

Deshalb lebt Otto Graf als ein Vulkan, der im Verborgenen glüht. Es hat sich nichts Wesentliches geändert, seit ich 1972 - Dank an den österreichischen Staat - über das Thema „Warum gibt es kein österreichisches Geistesleben?" sprach. Damals erhielt ich den Großen österreichischen Staatspreis.

Um nicht mißverstanden zu werden: mit „Preisen" wäre der Fall Otto Graf nicht abzugelten.

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