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Überstunden für Kommentatoren?

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In Budapest, Warschau und Prag, aber auch in Bukarest kann man immer häufiger die Frage hören: Wenn wir schon mit Nixon und Ford Freundschaft geschlossen haben — gibt es denn da noch überhaupt einen Feind?“ „Rechtsabweichler“ — nach dem Parteijargon also Parteimitglieder, die nationale Interessen höher halten als die russisch-imperialistischen, gehen noch weiter: „Wir haben es schon längst gesagt, daß wir engere Kontakte zur Bundesrepublik“ und den USA hätten ausbauen' müssen. Wir sollten uns mehr um die eigenen Interessen als um die fremden kümmern!“ Mehr nach links neigende KP-Funktionäre formulieren ihre Besorgnisse folgendermaßen: „Jeder Schritt, der eine Kooperation mit den Amerikanern begünstigt, bedeutet einen Verrat am Klassenkampf und an der Revolution!“ Solche Auffassungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, ist keine leichte Aufgabe.

Bei diesem großen ideologischen

Wirrwarr müssen die linientreuen Kommentatoren Überstunden leisten. Zumeist plappern sie die gültigen Moskauer Thesen nach: nicht alle Imperialisten seien gleich, dennoch könne man nicht einfach behaupten, daß es eben gute und schlechte Imperialisten gebe. Man könne nur sagen, daß manche Imperialisten die wirklichen Kräfteverhältnisse realistisch erkannt und eingeschätzt und daß sie daraus im eigenen Interesse unvermeidliche Konsequenzen gezogen hätten. ' Aridere foieöfenim könnten sich vom Gedanken an den „Kalten Krieg“ und dessen Methoden nicht lösen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, werden als „realistische Imperialisten“ Präsident Ford und der amerikanische Großkapitalist Mister Hammer, der aus Sowjetgeschäften enorme Profite einheimst, namentlich angeführt. „Besessene Imperialisten“ hingegen sind: der amerikanische Senator Jackson und der Gewerkschaftsboß Meany, der ehemalige südvietnamesische Präsident

Thieu und Bayerns Franz Josef Strauß. Mit den Sozialdemokraten kann und darf man nicht liebäugeln, weil sie „bürgerliche Ansichten vertreten“. Willy Brandt hinwiederum suchte den Frieden mit Sowjeteuropa in seiner Eigenschaft als Kanzler der Bundesrepublik, und nicht als Parteiführer der SPD.

Es sind da noch bemerkenswertere Feststellungen zu hören. Wenn die sozialistischen Länder ihre Beziehungen zu Japan, der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten normalisieren, „verzichten sie damit nicht auf den Klassenkampf“, sondern “Sie verlegen den Kampf auf ein „günstiges Terrain für die fortschrittlichen Kräfte...“. „Auf allen Gebieten des politischen Lebens fand eine Kräfteverschiebung statt.“ Das Wesentliche daran sei, daß „das Sowjetlager militärisch, politisch und wirtschaftlich sich schneller entwickelt als die kapitalistischen Länder“. Die „Imperialisten“ sind nach gültiger Darstellung allerdings nicht schwächer geworden, im Gegenteil, sie rüsten auf und werden immer stärker“, nur ihr Wachstumstempo ist langsamer als jenes des Sowjetblocks. Die Verfechter der friedlichen Koexistenz haben diesen entscheidenden Wesenszug der Entwicklung erkannt. Der ungarische Starkommentator, Ferenc Värnai, meint dazu: „Die kapitalistische Welt wird versuchen, die sozialistischen Länder an ihren Markt und an ihre Technologie zu fesseln, die Erweiterung der Beziehungen wird dazu benutzt werden, die Gedankengänge der Bourgeoisie zu popularisieren.“ Gibt es dagegen ein Abwehrmittel? Gewiß! „Kein einziger sozialistischer Staat kann im Sinne seiner nationalen Interessen Nützlicheres tun, als eine engere Bindung an die Sowjetunion anzustreben.“

Die sogenannte „Auflockerungspolitik des Westens“ ist nach der Beurteilung hoher Sowjetfunktionäre erfolgreich. Das Zentralorgan der KPdSU rechnet bereits mit einer Gefahr, die bisher immer nur als lächerlich hingestellt wurde, nämlich damit, daß die osteuropäischen Länder eines Tages abtrünnig werden könnten. Immer öfter höre man nämlich in Osteuropa, daß die Sowjetunion doch zu Asien gehöre, die Satelliten hingegen zu Europa. Infolgedessen möge der Kreml, je früher, je lieber, den mitteleuropäischen Ländern freien Abzug gewähren. Das Zentralorgan schlugt in seinem Kommentar energisch zurück: „Die Sowjetunion gehört ebenfalls zu Europa, uns kann man vom Kontinent nicht einfach ausschließen!“

>r Moskau spielt gegenwärtig in Osteuropa die ökonomische Karte aus, in der Annahme, daß wirtschaftliche Bindungen immer noch stärker sind als ideologische und politische. Deshalb wird die wirtschaftliche Vollintegration vorangetrieben. Eine Tonne Rohöl besitzt mehr Anziehungskraft als Lenins Gesammelte Werke. Zur Zeit könnte Sowjeteuropa ohne russische Rohstofflieferungen nicht existieren. Der Kreml steht dabei vor einem schweren Dilemma. Soll die UdSSR ihre Rohmaterialüberschüsse auf kommerzieller Basis günstig an entwickelte Industrieländer verkaufen, oder sie auf Grund politischer Überlegungen an die Blockländer liefern, die nur mit minderwertigen Industrieprodukten bezahlen können? Das Dilemma wird noch dadurch verstärkt, daß die Sowjetunion durch eine enge Kooperation mit hochindustrialisierten Ländern, wie den Vereinigten Staaten, der Bundesrepublik und Japan, in eine „halbkoloniale Situation“ geraten könnte, weil sie auf dem „neuen Terrain des internationalen Klassenkampfes“, nämlich im Wirtschafts- und Produktionswettbewerb, zweifellos schwächer ist als ihre westlichen Partner. Mit einem solchen „Sowjetmutterland“, hinter welchem Rotchina lauert, können die Satelliten in Mitteleuropa ihre Schwierigkeiten nicht meistern. Im Magnetfeld des Westens hingegen würden sich ganz andere Perspektiven öffnen.

Während einer Radiodiskussion wurde in Budapest ganz offen die Frage aufgeworfen, ob dem ungarischen Volk die östliche Wirtschaftsund Militärgemeinschaft (COMECON und Warschauer Pakt) noch irgendwelche Vorteile bieten könne, oder ob „wir uns anderswohin orientieren sollen“. Die Teilnehmer an dem Gespräch waren sich der Gefahr wohl bewußt, suchten also Rettung in theretischen Ausflüchten. Schließlich stellten sie fest, daß „das gegenwärtige Weltbild politisch bipolar (Sozialismus — Kapitalismus), ökonomisch hingegen multipolar“ sei. Das interessanteste daran war zweifellos, daß

solche Fragen überhaupt öffentlich diskutiert werden durften.

Derzeit geben maßgebliche Fachleute im Osten zu, daß „der wirtschaftliche Einfluß der Sowjetunion in der Welt mit ihrem politischen nicht in Einklang stehe“. Deswegen müsse Moskau daran arbeiten, daß nun „auch ein wirtschaftliches Kräftegleichgewicht hergestellt“ werde. Leichter gesagt als getan! Darin freilich sind sich die östlichen Experten einige, daß ihr Ziel ohne friedliche Koexistenz unerreichbar ist.

Und wer hätte es noch vor kurzem für möglich gehalten, daß im Sommer 1975 in osteuropäischen Zentren auch von „Widersprüchen innerhalb der kommunistischen Welt“ gesprochen wird. Es wird auch schon daraus kein Hehl gemacht, daß „die Öffentlichkeit ständig beobachte, auf welche Karte man eigentlich setzen solle“. Die parteiamtlichen Stimmungsmacher wollen ihre Schäflein natürlich davon überzeugen, daß es nur eine einzige „gute Karte“ gebe, nämlich die sowjetische. Dennoch fallen sogar in hohen Parteigremien Worte wie „Es gibt neue Möglichkeiten, und man müßte sich ihnen anpassen.“ Die vorsichtigeren Interpreten fügen hinzu: „Gewiß, es gibt nur zwei Pole, zwischen diesen aber auch eine Reihe von geringeren Anziehungszentren, zwischen denen man vorübergehend, und hauptsächlich wirtschaftlich, geschickt lavieren könnte. Die nationalen Interessen und Ziele müssen in einem elastischeren, viel komplizierteren Bezugssystem verwirklicht werden“ als noch vor ein paar Jahren.

Wer offene Ohren hat, kann in den mitteleuropäischen Hauptstädten auch vernehmen, daß die Teilung des sozialistischen Lagers, der Gegensatz zwischen China und der Sowjetunion zwischen Ohina und der Sowjetunion, „den Kleinen von Vorteil“ sei. Unter diesem Gesichtspunkt birgt die sowjeteuropäische Entspannungstaktik manche Gefahren in sich.

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