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Überwindung — und Selbstfindung

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Ein Standardwerk liegt nun schon seit einiger Zeit auf den Regalen der Buchhandlungen: 1400 Seiten berichten, dokumentieren, analysieren die Zweite Republik. Erika Weinzierl und Kurt Skalnik dürfen es als Verdienst in Anspruch nehmen, erstmalig eine Bestandaufnahme durch insgesamt 32 Mitarbeiter (mit prominenten, aber auch teilweise unbekannten Namen) vorgenommen und als Herausgeber fungiert zu haben.

Kritisiert man vorweg etwas, dann den Mangel an einer Überschau — einer Zusammenfassung also, die die geistesgeschichtlichen Entwicklungen sichtbar macht. Auch würde eine Darstellung der Entwicklung Österreichs im Rahmen der europäischen, der weltpolitischen Szene das Eingebundensein des Landes in internationale Entwicklungen ebenso siehtbar machen wie das Eigenartige, Unverwechselbare, Unaustauschbare eines sich bewahrenden und be-wußt-entwickelnden österreichischen.

Der Rezensent bemerkt: eine ausgewogene Mischung aus Wissenschaftlern und praxisnahen Beobachtern der Zweiten Republik bei der Auswahl der Mitarbeiter; Ausgewogenheit zwischen „schwarzen“ und „roten“ Kritikern; eine chronologisch-historische und eine Sachprobleme referierende Einteilung. Ein bemerkenswerter Anmerkungsapparat, der weiterhilft.

Es fällt schwer, auf alle Beiträge einzugehen — das ist die Crux von Sammelwerken. So bleibt die Pflicht, einen Succus zu wagen: was hat die Zweite Republik eigentlich ausgemacht — im Vergleich zur Ersten und zur Zeit vor 1918?

Da ist das neue Gefühl für den Staat, den keiner wollte, und der doch für den Österreicher unersetzlich war. Die nationale Identifikation also, verbunden mit einem erwachenden Selbstbewußtsein. Das neue Gefühl vom österreichischen (als Nation, als Volk ist da gleichgültig), das sowohl alpinen Patriotismus wie wienerisches Sendungsbewußtsein in sich vereint, hat offensichtlich ganz starke Wurzeln geschlagen. Und es mündete nach 1945 auch in einer bewußt erlebten neutralen Grundströmung, die nie zum Nationalismus wurde.

Wachsender Wohlstand und sozialer Friede (man könnte den „Überfrieden“ fast schon als politisches Laisser-faire monieren) haben den Bürger der Zweiten Republik zum „östlichen Schweizer“ werden lassen — gepaart mit einem fatalen Hang zum „Uns kann nix passieren“. Auch das ist registraturwürdig. Aber da sind die Symptome des kulturellen Verfalls; eine müde gewordene Spätkultur schickt sich an, vom Kuchen der Vergangenheit zu essen: immer noch — wie Marlborough schon meinte — um eine Idee, ein Jahr zu spät...

Da ist auch die zunehmende Entfremdung zwischen West und Ost in dieser Zweiten Republik. Die Enns als geheime Grenze läßt Alpen- und Donauösterreicher entstehen; die

Hauptstadt der Ersteren wird zunehmend München.

Und da sind die Träger der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Prozesse: Repräsentanten von versteinerten Institutionen, in einem Raum neben der Verfassung versammelt, mehr Interessenten als Interessenwahrer, bereit zur Subvention, die vielen zum Gefängnis wurde, bereit auch zur Übersoziali-sierung und zur Aufgabe freier Wettbewerbsmühen — hingenommene Verstaatlichung — auch dort, wo sie nicht wirtschaftlich oder sozial notwendig ist, hingenommene Ausdehnung von Staatseinfluß, wo mehr Selbstbehauptung und mehr Widerstand wünschbar wäre.

Alles das taucht auf zwischen den Zeilen, in den Spalten der Lektüre.

Die Zweite Republik: sie hat uns Österreicher endlich das gegeben, was im Grunde seit 1848 Leitmotiv fast aller politischen und moralischen Forderungen in diesem Lande ist. Wir sind, wie es scheint, auf dem Wege. Auf dem Wege zur Uberwindung und Selbstfindung. Klein, aber glücklich. Haben wir deshalb schon fast ausgesorgt? Oder bedroht dieses Gebilde nicht sehr wohl sehr vieles?

Manche Autoren ziehen auch Linien in die Zukunft — manche ersparen sich mühsame Ausflüge in die Perspektive. Und doch — wann kommt die Dritte Republik? Bleibt sie uns erspart, dieser Generation, auch noch der nächsten — aber dann?

Dieses Buch ist statt eines Denkmals für Leopold Figl und Adolf Schärf geschrieben ' worden. Das nächste müßte für alle jene geschrieben werden, die das Vermächtnis dieser beiden großen Österreicher zu erfüllen haben: konkret — für diejenigen, die die Zukunft zu gestalten haben. Das Buch von der Zukunft — ihren Erwartungen, Hoffnungen, Möglichkeiten. Von dem, was nach der Zweiten Republik kommt...

OSTERREICH — DIE ZWEITE REPUBLIK: Von Erika Weinzierl und Kurt Skalnik. 2 Bände, Verlag Styria, 1371 Seiten, S 1200.—.

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