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Übrig bleibt ein tiefer Schmerz

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Israel hat sich vom Freispruch Iwan John Demjanjuks (73) vor mehr als einer Woche noch nicht erholt. Es gab begründete Zweifel, daß er jener „Iwan der Schreckliche” ist, der im Vernichtungslager Treblin-ka den Todgeweihten mit besonderem Sadismus begegnete. Viele Juden hadern mit der Gerechtigkeit, die sie verlorengegangen glauben.

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Israel hat sich vom Freispruch Iwan John Demjanjuks (73) vor mehr als einer Woche noch nicht erholt. Es gab begründete Zweifel, daß er jener „Iwan der Schreckliche” ist, der im Vernichtungslager Treblin-ka den Todgeweihten mit besonderem Sadismus begegnete. Viele Juden hadern mit der Gerechtigkeit, die sie verlorengegangen glauben.

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Ursprünglich wollte der verstorbene Ministerpräsident Menachem Begin mit der Auslieferung Iwan John Demjanjuks an Israel (1986) einen zweiten Eichmann-Prozeß inszenieren, in der Hoffnung, dadurch nicht nur einen Kriegsverbrecher zu bestrafen, sondern das Bewußtsein des Holokausts erneut zu erwecken. Schulklassen wurden zu dem Prozeß geschickt, um mit eigenen Augen einen Kriegsverbrecher zu sehen. Das Vorhaben scheiterte schon zu Beginn des Prozesses, als die Verteidigung die Tatsachen des Holokausts gar nicht abstritt, sondern lediglich behauptete, daß der Angeklagte John Demjan-juk mit Iwan dem Schrecklichen nicht identisch sei.

Bei diesem Prozeß stellte sich heraus, daß es nach 50 Jahren äußerst schwierig ist, Kriegsverbrecher zu verurteilen, weil bei den Zeugenaussagen Zweifel aufkommen können wegen der so lange zurückliegenden Zeit, die meisten der in Frage kommenden Zeugen gar nicht mehr am Leben sind, und das Gericht nicht mehr imstande ist, eine begangene Schuld einwandfrei festzustellen, wenn nicht außer den Zeugenaussagen weitere Indizien (schriftliche Aufzeichnungen) vorliegen.

Das Bewußtsein des Holokausts wird auch weiter bestehen, denn dieser ist trotz allen Mordens in der Welt als einzigartig zu werten. Doch die Verurteilung von Kriegsverbrechern wird immer schwieriger. Das israelische Gericht ließ sich auch durch die Volksmeinung nicht von seiner Überzeugung abbringen.

Trotz des Stolzes auf den jüdischen Rechtsstaat und trotz der Tatsache des Urteilsspruchs, der gegen das Gefühl von Gerechtigkeit gefällt wurde, ist die Verbitterung seit Verkündung des Gerichtsbeschlusses unermeßlich. Insbesondere die Überlebenden des Holokausts sind zutiefst betroffen. Ein Tre-blinka-Überlebender namens Weinberg versuchte Selbstmord zu begehen:„Ich konnte es nicht begreifen, daß dieser grausame Mörder freigesprochen wurde. Es ist kein Rachegefühl, doch hoffte ich, daß wenigstens in Israel die Gerechtigkeit waltet”, schrieb der 66jähri-ge in seinem Abschiedsbrief.

Erhaben über Rachedurst

Nobelpreisträger und Holokaustüberle-bender Ehe Wiesel schrieb nach dem Prozeß: „Warum fühlte ich den schrecklichen Druck im Herzen? Niemand zweifelt an seiner Schuld; wenn er nicht in Treblinka war, so war er doch in Sobibor. Auch dort waren die Wachmänner nicht als besondere Menschenfreunde bekannt. Warum wurde er dann auf freien Fuß gesetzt? Als Jude habe ich volles Vertrauen in das israelische Justizwesen. In gewissem Sinne müssen wir auch stolz sein, daß das Gericht nicht den Gefühlen des Volkes Rechnung trug, sondern darauf bestand, daß das Recht vor der Gerechtigkeit steht. All das hat aber ernste Folgen. Was geschieht, wenn man morgen allen Holo-kaustüberlebenden sagt, daß man sich entsprechend dem Demjanjukprozeß nicht mehr auf ihr Gedächtais verlassen kann. Gibt es für diese Juden etwas Lebendigeres als ihre Erinnerung an das ihnen angetane Unrecht? Juristen werden behaupten, daß letzten Endes die Justiz gesiegt hat. Ich persönlich weiß nicht, wer der Sieger ist. Doch weiß ich, und ich sage dies mit tiefem Schmerz: hier hat das jüdische Gedächtais verloren.”

Der israelische Justizminister David Libai sagte nach dem Prozeß: „Das Oberste Gericht bewies der gesamten Welt, daß jüdische Richter in Jerusalem einen gerechten Prozeß führen können, sogar wenn der Angeklagte wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk vor Gericht gestellt wurde.”

Und der ehemalige Oberrichter Chaim Cohen, der als eine Autorität auf seinem Gebiet gilt, meinte zum Urteil: „Mit großer Genugtuung habe ich das Urteil gehört. Ich hoffte, daß der Prozeß so ausgehen wird.” Er sei froh, daß sich das Gericht über den „populistischen Rachedurst” erhaben gezeigt habe.

Typisch für den Durchschnittsisraeli ist der Eindruck der diesjährigen Dichterpreisträgerin Jana Kaben: „Ich habe gemischte Gefühle. Es bedrückt mich, daß der Kriegsverbrecher frei ausgeht, ich bin wütend über den Verteidiger Joram Scheftel, der alles, was uns heilig ist, bei diesem Prozeß mit Füßen trat. Und das schlimmste ist der Beweis: Man kann der schrecklichste Schurke sein und trotzdem straflos davon kommen.”

Der israelischen Öffentlichkeit hallen noch die Worte Josef Czarnis, eines Zeugen im Demjanjuk-Prozeß, in den Ohren: „Im Gericht bin ich nicht allein. Die Millionen Juden, die in Treblinka gequält, ermordet, geschlachtet und verbrannt wurden - für sie bin ich der Mund, der ihre Qualen herausschreit, denn dank ihnen bin ich heute noch am Leben.” Czarni und andere Zeugen konnten es nicht glauben, daß dieses in ihren Augen sadistische Scheusal freigesprochen wurde.

Iwan Demjanjuk, 1,75 groß, grobschlächtig, robust, ist ein Mann, der während seiner Untersuchungshaft mit Verehrern aus der ganzen Welt korrespondierte, ein geordnetes Leben im Gefängnis führte, wo man ihm ein Abteil überließ, in dem er allein schalten und walten konnte. Die Urteilsverkündung ließ ihn kalt, er gähnte von Zeit zu Zeit und nickte immer für kurze Zeit ein. Über sich selbst meinte Demjanjuk einmal: „Ich bin ein Held.”

Inoffiziell verhandelt momentan das israelische Justizministerium mit US-Justizbehörden über die Möglichkeit, Demjanjuk wegen Teilnahme an Naziverbrechen in Sobibor und anderswo erneut in Israel anzuklagen.

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