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Uizeit im Nebel

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Jahr für Jahr sterben schätzungs- weise 20.000 Tier- und Pflanzenar- ten aus, ohne je wissenschaftlich registriert worden zu sein. 1,7 von mutmaßlich 30 Millionen Arten, kaum sechs Prozent, sind beschrie- ben und benannt.

Das Artensterben, so Professor Wolfgang Wieser, Ordinarius für Zoo-Physiologie in Innsbruck, gehe weitgehend unbemerkt vor sich. Eine der Forderungen, die er kürz- lich aufstellte, zielt - neben der Schaf f ung eines zentralen Instituts zur Erforschung und Erhaltung der biologischen Vielfalt - auf Verbes- serung der Ausbildung im Bereich der Taxonomie, der Bestandsauf- nahme der Lebewesen.

In den tropischen Regenwäldern ist die Artenvielfalt besonders groß, besonders wenig bekannt, beson- ders bedroht. Während die latein- amerikanischen Regenwälder da- hinschmelzen, hat die Erkundung einer Teilregion, die von höchster Bedeutung für die Evolutionsfor- schung ist, eben erst begonnen.

Es handelt sich um eine Gruppe von 115 Tafelbergen, die sogenann- ten Tepuis. Sie liegen im Süden Venezuelas und zum Teil in Brasi- lien. Eine halbe Million Quadratki- lometer, die nicht kartographiert werden konnten, da Wolken und Nebel das Land verhüllen. Die Gegend war bis vor kurzem einer der letzten weißen Flecken auf den Landkarten. Eintragung für Pilo- ten: „Es ist gefährlich, unter 10.000 Fuß zu fliegen." Die nun existie- renden Karten basieren auf Radar- aufnahmen, die wie auf einem frem- den Planeten aus großer Höhe durch Wolken und Blätterdach hindurch entstanden.

Die Tepuis, „Häuser der Götter" nach dem Glauben der Indianer, sind Tafelberge mit zum Teil senk- rechten, oft Tausende Meter hohen Felswänden. Sie faszinierten schon Alexander von Humboldt und reg- ten Conan Doyle zum Roman „Lost world" an. Er handelt von einer Expedition, die in Abenteuer mit riesigen Flugsauriern verwickelt wird, die hier die Jahrmillionen seit ihrem angeblichen Aussterben überdauerten.

Die Tafelberge sind Reste eines 1,7 Milliarden Jahre alten Sand- steinplateaus. Durch die Erosion entstanden die unzugänglichen Tafelberge mit ihren zum Teil völ- lig unwegsamen, Felslabyrinthen gleichenden Hochplateaus und Hunderte Meter breiten und tiefen Löchern in den Plateaus mit eben- falls senkrechten Wänden, tiefen Schluchten, durch die Flüsse tosen, riesigen Wasserfällen, darunter der höchste frei stürzende der Welt und mit ausgedehnten Höhlensystemen.

Saurier gibt es in der Welt der Tepuis keine, aber die Region bietet solchen Phantasien reiche Nahrung und der Denkansatz ist sogar rich- tig. Ähnlich wie der legendäre Quastenflosser im Indischen Ozean, und aus ähnlichen Gründen, konn- ten hier Lebensformen überdauern, die anderswo seit Millionen Jahren ausgestorben sind. Die Tepuis bie- ten durch ihre Unzulänglichkeit ökologische Nischen, die gegen jede Konkurrenz jüngerer, besser ange- paßter Arten abgeschottet sind. Nicht nur die Stabilität der Exi- stenzbedingungen, sondern vor al- lem der Mangel an Konkurrenz in der Isolation schuf hier ähnlich wie in den Tiefen des Indischen Ozeans lebende Fossilien. Im Gegensatz zu Meerestiefen und Höhlen brachten die Tepuis aber reich strukturierte Lebensräume mit einer Fülle un- terschiedlicher Existenzbedingun- gen hervor.

Einer der Überlebenden früherer Erdzeitalter ist der Urfrosch Oreophrynella, der wenig über zwei Zentimeter lang wird. Im Verlag GEO erschien nun der Bericht des Wissenschaftsjournalisten und Fil- memachers Uwe George, der an der bisher größten Expedition in das Gebiet teilnahm („Inseln in der Zeit", 366 Seiten, mit vielen Farb- fotos von außergewöhnlichem Reiz, öS 498,-).

Zur Ausbeute zählen unter ande- rem drei bisher unbekannte Säuge- tierarten (darunter eine Fledermaus und eine unbekannte Maus), 14 neue Amphibien und Reptilien, eine ganz neue Gattung und zahlreiche neue Arten von Ameisen, Dutzende Kä- ferarten sowie mehrere neue Gat- tungen und eine große Zahl bisher unbekannter Pflanzen, darunter Vorfahren weltweit verbreiteter Nutzpflanzen, nämlich der Orange und der Yucca.

An einem einzigen Tag entdeck- ten die Forscher drei unbekannte Orchideen. Auf den ausgesetzten Stellen der Hochplateaus, wo der Wind alles austrocknet, entstanden polsterartige Lebensgemeinschaf- ten von bis zu 20 Arten, an den un- günstigsten Stellen gedeihen außer Flechten nur noch bis zu zwei Me- ter hohe fleischfressende Pflanzen.

Unter den Neuentdeckungen sind eine noch namenlose Spinne vom Durchmesser eines Eßtellers (sie sprang den Forschern mit einer Eidechse, die sie gerade gefangen hatte, auf den Tisch) und ein bis dahin rätselhaftes Tier, das den Urwald nächtens mit geheimnis- vollen Orgelklängen erfüllt. Als Urheber wurde ein kleiner Frosch identifiziert. Er benützt hohle, wassergefüllte Baumstämme als Resonanzkörper und Lautverstär- ker für die Gesänge, mit denen er die Weibchen anlockt.

Die Auswertung der Ausbeute wird Jahrzehnte dauern. Einst galt die Gegend als El Dorado, Gold- land. Heute ist sie ein Dorado der Evolutionsforschung, eine ihrer größten Fundgruben. Über Anpas- sung, Lebensgrundlagen, Zusam- menleben der Arten ist noch fast nichts bekannt. Es wird noch vieler Expeditionen bedürfen - sofern dieses Waldgebiet nicht vorher mit den Resten des Regenwaldes unter- geht.

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