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Um das Erbe Kennedys

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Jetzt zeigt es sich, wie gut gezielt die Schüsse waren. Die Zielfernrohre der Gewehre müssen auf historische Sicht eingestellt gewesen sein. Wahlprogramme, Wahlkampagnen und vor allem die Wahlkandidaten verraten die Unersetzbarkeit von John F. Kennedy, Robert Kennedy und Martin Luther King. Und unersetzbar in der Gewerkschaftswelt“ ist offenbar auch Walter Reuther, Automobilarbeiterführer, beim Flug von Gewerkschaftsversammlung zu Gewerkschaftsversammlung abgestürzt. Die Wahl findet in dem Vakuum statt, das mit den Attentaten entstand.

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Jetzt zeigt es sich, wie gut gezielt die Schüsse waren. Die Zielfernrohre der Gewehre müssen auf historische Sicht eingestellt gewesen sein. Wahlprogramme, Wahlkampagnen und vor allem die Wahlkandidaten verraten die Unersetzbarkeit von John F. Kennedy, Robert Kennedy und Martin Luther King. Und unersetzbar in der Gewerkschaftswelt“ ist offenbar auch Walter Reuther, Automobilarbeiterführer, beim Flug von Gewerkschaftsversammlung zu Gewerkschaftsversammlung abgestürzt. Die Wahl findet in dem Vakuum statt, das mit den Attentaten entstand.

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Auf diese Führer hatten die Menschen mit politischer Vorstellungskraft seit dem Tod Roosevelts gewartet; voller Ungeduld während der Nachkriegs jähre der Desillusionie-rung, voller Angst vor den Folgen konventioneller Präsidenten und musealer Politiker in einer Zeit der großen Aufgaben Amerikas. John F. Kennedy gelang es, die Grenze zu überwinden und mit den Vorstellungen der engagierten Minorität die Erwartungen der Majorität zu erwecken.

Er verkörperte die Vision, daß die USA der eigenen Zukunft dienen, wenn sie für die Zukunft der Welt Sorge tragen. Als er getötet war, galten die Hoffnungen der engagierten Minorität Robert Kennedy und Martin Luther King. Und Walter Reuther suchte die Gewerkschaftsbewegung an den Kennedy-King-Zug anzukoppeln. Mit der Kraft ihrer Vision verschweißten diese Vier die Liberalen, Intellektuellen, Neger und Linken zu einer politischen Einheit. Der politische Erfolg der Attentate ist heute stärker als je zuvor zu spüren: Die Vision ist geplatzt, mit ihr diese Einheit.

An Stelle der politischen Vision trat Predigerverheißung. An Stelle einer Einheit von Arbeitern, Intellektuellen und Negern trat ein neuer Klassen- und Rassenkampf: Arbeiter für Nixon, Neger für McGovern. Die heute um ihre Emanzipation aus dem Negerghetto ringen, sind McGoverns Rassenhasis. Die heute ihre Emanzipation für verteidigungswürdig halten, sind die Klassenbasis Nixons. Unter den Verbündeten der Neger sind die Restbestände der versiegten Rebellion gegen das Establishment. Unter den Verbündeten der Arbeiterorganisationen ist: Business for Nixon.

Zu den Wahlprämissen gehören die Alltagswerte. Es gibt hier Rezession, Arbeitslosigkeit. Aber die Rezession ist keine offene Wunde und wahrscheinlich im Ausgleiten, Berufs- oder Wohnsitzveränderung führt ohne große Schwierigkeiten zu einem neuen Arbeitsplatz. Die organisierten Arbeiter in der Industrie sind von der Arbeitslosigkeit weniger betroffen als Akademiker und Angestellte. Nixons Lohn- und Preisstopp fixiert die Löhne wirkungsvoller als die Preise. Doch die Preise steigen auf keinen Fall in mitteleuropäischen Proportionen. Das Verhältnis von Lohn und Preis liegt in den USA für den Lohnempfänger günstiger als in Mitteleuropa.

Dafür sind Unrast, Unsicherheit, Süchtigkeit, Verbrechen jstarke und bedrohliche Elemente im Alltag; aber sie beherrschen nicht die Gesellschaft. Der politische Sturm des vergangenen Jahrzehnts hat sich verzogen.

Die Erbschaft der Kennedys und Martin Luther Kings lag für McGovern bereit. Alle Kräfte der Kennedy-Epoche übertrugen ihre Hoffnungen und ihre Loyalität auf McGovern. Das brachte ihm den Sieg auf dem Kongreß der Demokratischen Partei und Schimmer der Kennedy-Begeisterung in die Wahlkampagne. Studenten und junge Intellektuelle waren zögernd bereit, als Pflichtübung des Fortschritts gegen Nixon zu wählen. Aber der Schwund an ererbter Substanz liegt an der Persönlichkeit McGoverns. Zuerst war er darauf aus, die sogenannten Fortschrittlichen zu sammeln und die Partei von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. Nachher fühlte er sich berufen, das Volk zu bekehren.

In der Zeit des Kampfes um die Parteinominaition hatte McGovern zwar noch kein Programm, besaß aber Glaubwürdigkeit. Sein neues Sendungsbewußtsein brachte ihm zwar noch immer kein Programm, aber nahm ihm seine Glaubwürdigkeit. McGoverns Evangelistenglaube an die Notwendigkeit der Umkehr Amerikas bestimmt die Unverhind-lichkeit aller programmatischen Sätze, besonders der außenpolitischen. Einmal sagte er, in Vietnam habe sich nur eines verändert: statt der Amerikaner sterben jetzt dort Vietnamesen. Aber nicht die Hautfarbe der Sterbenden, sondern daß gestorben wird, sei das Entscheidende. Doch nachher blieb McGoverns Sorge um die Menschen aller Rassen unartikuliert; verdeckt von McGoverns „Sorge um Amerikas Umkehr“. Aber wo endet Vietnam und wo beginnt Mittelasien, wo Europa?

Während der Vorwahl entstand das Lager McGoverns: Vorne jene, die für „Umkehr“ der USA wirken, hinten diejenigen, die nur die Abkehr der USA von der Weltpolitik interessiert. Das Lager McGoverns versperrt McGovern den Weg.

Dem Wahlkampf werden Kämpfe in der Demokratischen Partei folgen. Schon ist das Lager der Feinde McGoverns fest umrissen. Obenauf die südlichen Demokraten im Gegenangriff gegen die „Vernegerung der Demokratischen Partei“. An ihrer Seite George Meany und seine Gewerkschaftsbosse. McGovern hat die Kennedy-Einheit nicht wieder verschweißen können. Arbeiter und Neger stehen abwehrbereit einander gegenüber. Zwischen Arbeiterjugend und Universitätsjugend herrscht die Stimmung des Klassenkampfes. Ohne Zweifel werden die Bosse und die Manipulatoren der Demokratischen Partei das Mißtrauen schüren, die Gegnerschaft ausnützen, um eine Gegenreformation zu erwirken. Und erst das würde dann die Niederlage McGoverns endgültig zur Auflösung von Kennedys Erbschaft stempeln.

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