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Digital In Arbeit

UM NICHT OUT ZU SEIN

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Seit neunzehn Jahren unterrichte ich an Hauptschulen und Polytechnischen Lehrgängen in Oberösterreich. Nach . sechs Dienstjahren in einem Heim für „schwererziehbare" Mädchen in die ..Normalschule" zurückgekehrt, stellte ich Koedukation das erste Mal in Frage. Trotz der psychosozialen Schwierigkeiten der Schülerinnen in diesem Heim herrschte ein viel angenehmeres Arbeitsklima als in den heterogenen Klassen der Hauptschule. Mir selbst machten die, Jungs" das Leben auf eine Art schwer, die ich im Fürsorgeheim nie erlebt hatte. Ständig diese Provokationen, diese Aufforderungen zum Duell.

Vcr vier Jahren wußte ich nicht, daß die Diskussion auch auf offizieller Seite bereits geführt wurde. Zu meinem großen Erstaunen las ich darüber später in einer deutschen Lehrerbroschüre. Alles, was dort geschrieben stand, deckte sich mit meinen Erfahrungen.

Ich wünschte mir sehnlichst reine Mädchengruppen. Die Buben (zer)störten alle meine Versuche, den Schülerinnen Eigenverantwortlichkeit, Mitbestimmung und Reflexion über ihr Tun zu vermitteln. Sie riefen nach der „starken Hand", um sich sofort dagegen zur Wehr zu setzen, sobald sie erschien. Noch heute ringe ich täglich im Unterricht mit den „Machos", die die Schüler unbedingt zur Schau stellen wollen. Die Buben selber gaben in Einzelgesprächen zu. vor ihren Mitschülern die wilden Kerle herauskehren zu müssen, sonst wären sie „out", obwohl ihnen diese Rolle schon oft mißfällt. Der Gruppendruck ist stärker als ihr guter Wille.

Dasselbe wie mir widerfährt den Mädchen. Sie werden sekkiert, gekitzelt, ihre Sachen werden versteckt, ihre Röcke in die Höhe gehoben. Sie werden gelegentlich betatscht und anschließend wieder ignoriert. Und das Unglaubliche passiert: die Mädchen wehren sich nicht, sie fügen sich, erdulden alles oder finden es am Schluß sogar „nett". Die oben beschriebenen Handlungen sind die „Liebesbezeugungen" der Buben an die Mädchen.

Ehemalige Schülerinnen erzählten mir, daß sie sogar bereit waren, sich in eine Pause in der Klasse „oben ohne" zu präsentieren, um beim Wettbewerb „Wer hat den größten Busen" zu gewinnen. Diejenigen, die sich dies getrauten, stiegen mächtig in der Anerkennung durch die Buben. Sie stiegen sogar in der Achtung vieler Mitschülerinnen, da der Wert der Mädchen untereinander nach der Beliebtheit bei den männlichen Kollegen bemessen wird.

Ein anderes Beispiel aus meiner Praxis: Biologie, achte Schulstufe (etwa Vierzehnjährige), Sexualerziehung. Das Thema brennt allen unter den Nägeln. Eine große Schachtel nimmt anonym alle Fragen der Schüler auf. Die Buben „knacken" die Schachtel wiederholt, um festzustellen, wer welche Fragen in die Box gesteckt hat, und um anschließend ihre Witze darüber zu machen. Also sammle ich die Fragen unmittelbar zu Stundenbeginn ein. Ich beantworte die Fragen. Ein Mädchen zeigt auf. Noch bevor sie etwas sagen kann, gröhltein Teil der jungen Herren. Die Schülerin errötet, läßt die Hand sinken. „Ist eh' nicht wichtig" antwortet sie auf meine Frage. *

Bei meinen darauffolgenden Ausführungen die Schülerzettel betreffend (glücklicherweise fällt mir das nicht schwer) hagelt es ordinäre Zwischenrufe und ätzende Bemerkungen. Am Ende der Einheit bitten mich einige Mädchen um eine Extrastunde mit ihnen allein. Und siehe da, es entwickeln sich äußerst fruchtbare Gespräche, die Schülerinnen berichten sehr ungeschminkt über ihre Erfahrungen, tauschen Ratschläge aus und stellen auch an mich sehr gezielte und konstruktive Fragen. Es herrscht ein Klima von Miteinander und gegenseitiger Achtung.

Sozial- und lebenskundliches Seminar im Polytechnischen Lehrgang (Alter um die 15). Zwei Jahrgänge hintereinander besuchten nur Mädchen dieses Wahlfach. Wir machten eine Menge Interaktions- und Kommunikationsspiele. Die Schülerinnen waren begeistert und versuchten neue Wege zur Lösung ihrer Konflikte untereinander. Mit der Zeit wuchs das Vertrauen und sie gaben sogar echte Geheimnisse preis. So erfuhr ich in diesen Stunden von Vergewaltigungen, die zwei Mädchen erlitten hatten, von sexuellen Übergriffen naher Freunde der Familie und wir wußten gar nicht, mit welchen Themen wir uns zuerst beschäftigen sollten. Aus diesen beiden Klassen und der Biologieklasse zuvor entwickelte sich eine Mädchengruppe, die ich auch heute noch betreue. Heuer sind in diesem Seminar auch drei männliche Schüler. Der Lehrstoff ist derselbe. Die Stunden verlaufen zäh und schleppend. Nichts ist wirklich interessant. Die Buben maulen immer wieder über den „faden Stoff. Die Mädchen schweigen. Zufall??

Ein letztes Beispiel: Leibeserziehung für Mädchen, etwa Vierzehnjährige. Ich vertrete ihre Turnlehrerin. Die Schülerinnen wünschen sich, gegen ihre männlichen Mitschüler Völkerball zu spielen. Beim ersten Spiel verlieren sie. Bei der Revanche sind sie aber sehr gut im Rennen. Nur mehr ein Gegner ist im Feld. Sie spielen mit zwei Bällen und mit Freifangen. Mit einigen wenigen Würfen wäre das Spiel beendet - dachte ich. Plötzlich rollen die Mädchen den Ball nur mehr, der Bub fängt, seine Mann-' schaft wächst wieder. Zu guter Letzt gewinnen erneut die Buben. Warum? In der Garderobe erhalte ich die Antwort: „Die spinnen so auf uns (Mädchen), wenn wir gewinnen!" Kommentar überflüssig.

Mein Traum: Freiwilligkeit der Koedukation, zeitweilige Trennung nach Geschlechtern gemäß dem Bedürfnis der Schülerinnen und/oder Lehrerinnen. Vermehrtes Augenmerk auf Selbständigkeit, Konfliktbereitschaft, Eigenverantwortlichkeit, Offenheit, Ehrlichkeit und Ausdrucksfähigkeit im Unterricht, sollten reine Mädchenschulen und/oder -klassen eingerichtet werden.

Natürlich stellt diese Haltung eine plakative Zusammenfassung vielfältigster Aussagen, unzähliger eigener Erlebnisse und Beobachtungen oft lange Zeit beanspruchender Prozesse dar, doch spiegelt sie den Grundtenor meiner Erfahrungen wider. Über das „Warum" muß an anderer Stelle nachgedacht werden.

Die Autorin ist Lehrerin an der Hauptschule mit Polytechnischem Jahrgang in Scharnstein (Oberösterreich).

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