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Umdenken in der Atomwaffen-Debatte

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Einen Atomkrieg gibt es nicht gibt: Es gibt nur den nuklearen Holokaust!

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Einen Atomkrieg gibt es nicht gibt: Es gibt nur den nuklearen Holokaust!

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Das Konzept eines amerikanischen strategischen Schirmes, unter dem die westlichen Alliierten der USA Schutz vor einem sowjetischen Vormarsch nach Westeuropa finden, wurde vor vielen Jahren entwickelt. Unter den Bedingungen der sechziger Jahre schufen die westlichen Alliierten das strategische Konzept von „Mutual Assured Destruction" (MAD = wechselseitig gesicherte Zerstörung) und „Flexible Response" (Flexible Reaktion).

Diese Strategie faßte ins Auge, daß einer sowjetischen Aggression mit einer systematischen, aber stufenweisen Eskalation der Instrumente begegnet würde: Angefangen wird vorerst ausschließlich mit konventionellen Waffen; sollten sich diese als unzureichend erweisen, wird die Stufenleiter erhöht - von atomaren Gefechtsfeldwaffen bis zum endgültigen Einsatz der strategischen Atomwaffenarsenale.

Als die Strategie ausgetüftelt wurde, hatten die USA und die Sowjetunion zwischen sich 6000 Sprengköpfe liegen und es bestand eine klare amerikanische Überlegenheit; ich zweifle daran, daß sie heute gerechtfertigt ist, wenn die Anzahl der Sprengköpfe 40.000 bis 50.000 beträgt.

Es ist diese rasende Vervielfachung der Sprengköpfe, die die sogenannte „Freeze"-Bewegung inspiriert hat, die heute in den Vereinigten Staaten zunehmend stärker wird.

Im Gegensatz zu einigen Anti-Atom-Gruppen in Europa ist die amerikanische „Einfrier"-Bewegung nicht von neutralistischen und Kapitulationsgedanken verdorben. Sie strebt nach einem einmütig akzeptierten „Einfrieren" der Atomwaffen auf beiden Seiten, keineswegs nach einseitiger Abrüstung, und sie anerkennt ausdrücklich die Notwendigkeit der Überprüfbarkeit…

Bis jetzt hat die „Freeze"-Bewegung die nützliche Funktion erfüllt, die Regierung Reagan in die Richtung aktiver Verhandlungen über Rüstungsbeschränkungen zu drängen. Und sollte die Bewegung den Verlockungen der Befürworter einseitiger Abrüstungen widerstehen — was ich glaube—, kann sie auch weiter Gegendruck gegen die Ideologen rund um Präsident Reagan ausüben …

Nicht nur die Befürworter eines nuklearen „Freeze", sondern auch viele anderen Amerikaner und Europäer beginnen zu begreifen, daß wir uns selbst lange Zeit an der Nase herumgeführt haben, indem wir die Nuklearwaffen als permanentes Mittel der Abschreckung gegen einen konventionellen Angriff ansahen. Aber davon auszugehen, daß im Falle eines sowjetischen Angriffs die westlichen Alliierten atomare Gefechtsfeldwaffen einsetzen könnten, ohne dadurch einen katastrophalen atomaren Schlagabtausch mit strategischen Waffen auszulösen, ist eine der gefährlichsten Selbsttäuschungen unserer Zeit.

Trotz der Hirngespinste von Lehnstuhl-Strategen, die mit leeren Konzepten über kontrollierte Eskalationen und begrenzten Atomkrieg herumhantieren, spielen Atomwaffen nicht die Rolle, konventionelle Angriffe abzuschrecken. Ihr einziger Zweck ist es, die andere Seite davon abzuhalten, ihre eigenen Nuklearwaffen einzusetzen.

Diese fundamentale Tatsache ist für die Europäer natürlich, schwer zu akzeptieren, sind ihre Geschichte und Geographie doch völlig von der Amerikas verschieden. Mehr als ein Jahrhundert lang hatten die USA keine Angst vor einem Angriff auf ihr Gebiet und wären auch, heute noch - wären nicht atomare Sprengköpfe entwickelt worden - unverwundbar.

Der europäische Kontinent andererseits wurde Jahrhunderte hindurch regelmäßig wenigstens jedes dritte oder vierte Jahrzehnt von verheerenden Kriegen heimgesucht. Daß Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges, seit über 37 Jahren, praktisch eine Art Ruhepause genießt, hat viele daran glauben lassen, daß die Existenz der nuklearen Drohung diesen Zyklus permanent unterbrochen habe. Sie meinen, nur die Bombe mit ihren apokalyptischen Konsequenzen habe die Menschheit zumindest die letzten vier Jahrzehnte hindurch vor einem Dritten Weltkrieg bewahrt.

Verwirrt durch diese post-hoc- und propter-hoc-Spekulation, sind die Westeuropäer verständlicherweise bestürzt über die leiseste Andeutung, daß die USA eine Deklaration über einen Nicht-Ersteinsatz von Atomwaffen erlassen oder auf dem Verhandlungsweg mit den Sowjets suchen könnten.

Eine solche selbstverleugnende, von den Sowjets mitgetragene Proklamation würde, falls glaubwürdig, ihrer Meinung nach das ungültig machen, was sie als die unentbehrliche Rolle der Atomwaffen ansehen: nämlich einen konventionellen Angriff abzuschrecken. Und die Europäer können den Gedanken an einen weiteren konventionellen Krieg auf ihrem Boden nicht ertragen.

Um nicht mißverstanden zu werden: Ich schlage hier nicht vor, daß die USA eine Deklaration über einen Erstschlags-Verzicht machen sollten; noch würde ich das jemals tun, solange die NA-TO-Nationen nicht eine angemessene konventionelle Streitmacht aufgebaut haben, um einem konventionellen sowjetischen Angriff widerstehen zu können. Was ich vorschlage, ist, daß die Menschen der NATO-Länder mit Vernunft und Realitätssinn an die Betrachtung der Wirklichkeit herangehen.

Im gegenwärtigen Machtkampf sind die nuklearen Sprengköpfe Symbole, nicht Waffen; sie haben keine Funktion in einem Krieg und nur einen abgeschwächten Nutzen in der Politik. Und da die Vervielfachung der Sprengköpfe und die schonungslose Verbesserung der Präzision der Trägersysteme den nuklearen Tod immer eminenter machen, ist es ungemein wichtig für beide Seiten, zu erkennen, daß es so etwas wie einen Atomkrieg gar nicht gibt: Es gibt nur den nuklearen Holokaust!

Dies sage ich nicht an die Adresse der Österreicher, die durch die Umstände auf die Neutralität verpflichtet sind, aber an die Adresse der Europäer der NATO-Länder, die die gegenwärtige Abhängigkeit vom nuklearen Mythos als tröstliche Ausrede verwenden, um größeren konventionellen Verteidigungsanstrengungen auszuweichen. Solch ein Komfort ist, fürchte ich, eine gefährliche Täuschung.

Denn dadurch, daß sie an ihrem Glauben festhalten, ein begrenzter Atomwaffeneinsatz könnte eine konventionelle Invasion abschrecken, ermutigen sie nicht nur die Militärs auf beiden Seiten, Strategien zur Führung eines nuklearen Krieges zu entwickeln; sie animieren damit auch noch den Irrglauben, Amerika könnte in Europa einen begrenzten Atomkrieg führen, ohne die strategischen Atomarsenale mit hineinzuziehen …

In der Atomwaffen-Diskussion hört man wiederholt, man müsse Irrtümer vermeiden, wie sie zum Zweiten Weltkrieg geführt hätten. Eine daraus zu ziehende Lehre wäre es demnach, daß der Westen eine ausreichende militärische Stärke aufbauen sollte, um zu vermeiden, jemals wieder mit einer Demütigung ä la München konfrontiert zu werden. Aber haben wir in unserem Bemühen, ein anderes München zu vermeiden, durch allzu starkes Setzen auf uneinsetzbare Atomwaffen nicht eine neue Maginot-Linie errichtet?

Anstatt die benötigten Ressourcen bereitzustellen, die benötigt werden, um die Armeen der NATO in eine ausreichende Verteidigungsposition zu bringen, verwikkeln wir uns in einen sterilen Zwist, ob wir weitere Atomwaffen auf europäischem Boden aufstellen sollten oder nicht. Wir provozieren dadurch Zorn und Uneinigkeit in einer Art und Weise, die für die Allianz selbst zu einer Zerreißprobe werden kann.

Das ist meiner Meinung nach nicht die Art, die Lektion aus den dreißiger Jahren zu ziehen; solchermaßen weicht man ihr eher aus. Dies (die Nachrüstungsfrage; die Red.) ist nicht eine Frage der amerikanischen Zuverlässigkeit oder dessen, was die Experten mit dem wenig eleganten Wort „Abkoppelung" bezeichnen.

Wenn die Vereinigten Staaten einem konventionellen Angriff der Sowjets mit dem Abfeuern einer einzigen atomaren Gefechtsfeldwaffe entgegenträten, würde Westeuropa meiner Ansicht nach beinahe sicher in der darauffolgenden Katastrophe zugrundegehen - und früher oder später wird die ganze Welt diese unerfreuliche Tatsache einsehen.

Wir können nicht, Göttern gleich, den Sowjets einreden: „Bewegt euch nicht aggressiv Richtung Westen, sonst werden wir euch vernichten!" Denn, ungleich Göttern, würden wir alle in derselben Katastrophe umkommen. Wir sollten uns auch nicht länger mit der verführerischen Rationalisierung abfinden, daß eine Neutralisierung der Atombombe den Zyklus der konventionellen Kriege wiederherstellen würde, den der Mensch Jahrhunderte hindurch gekannt hat.

Heute sollte die ungeheuer destruktive Kraft von konventionellen Waffen ausreichend sein, ein eigenes Gleichgewicht des Schreckens zu schaffen…

Wenn wir unsere Werte sichern und unsere Institutionen beibehalten wollen, müssen wir damit aufhören, billige und illusorische Lösungen anzustreben. Zusammen werden Europa und die Vereinigten Staaten ihre konventionellen Streitkräfte ausbauen müssen, die gebraucht werden, um einen konventionellen Angriff abzuwehren, ohne dabei von der immer geringer werdenden Drohung mit einem nuklearen Gegenschlag abhängig zu sein …

Gleichzeitig mit dem Aufbau einer adäquaten konventionellen Verteidigung sollte der Westen ernsthafte Versuche unternehmen, mit den Sowjets eine Ubereinkunft zu erreichen, um das übermäßige Gewicht konventioneller Waffen auf beiden Seiten zu reduzieren.

Das ist selbstverständlich keine neue Idee. An dieser Frage wird in Wien schon seit Jahren gearbeitet (MBFR-Verhandlungen; d. Red.), um Mittel und Wege zu einer Verminderung der konventionellen Streitkräfte zu finden. Leider aber tendiert der Westen mit seinem überwältigenden Interesse für Atomwaffen dazu, diese ungemein wichtige Angelegenheit als eine rituelle Übung zu behandeln, die ohnedies zur Sinnlosigkeit verurteilt sei.

Aber es ist ganz offenkundig dumm, sich ausschließlich auf Atomwaffen zu konzentrieren, die ja nicht eingesetzt werden können, während man eine uneingeschränkte Eskalation im Bereich der konventionellen Waffen zuläßt, die die einzigen Instrumente sind, mit denen Kriege geführt werden können, ohne die Zivilisation zu vernichten.

Hier — wie in vielen anderen Bereichen — ist das, was gebraucht wird, der politische Wille, die MBFR-Gespräche durch jedes erforderliche Mittel voranzutreiben. Vielleicht würde ein Außenminister-Treffen, das sich ausschließlich mit konventionellen Waffen auseinandersetzt, den notwendigen Anstoß geben. Aber was immer die verfolgte Devise ist: Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren.

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