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Umdenken in der Sozialpolitik

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Die Sozialpolitik stößt an. Zur Zeit steht die Gesundheitspolitik im Mittelpunkt der Diskussionen. Krankenkassen, kostenlose Gesundheitsversorgung von der Vorsorgeuntersuchung bis zur Intensivstation, sind selbstverständlich geworden. Niemand stellt sie in Frage. Aber sie müssen finanziert werden - von jedem einzelnen, ob er sie in Anspruch nimmt oder nicht. Das ist auch der Sinn des geteilten Risikos, der Solidarität aller Bürger. Aber wird sie nicht überfordert?

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Die Sozialpolitik stößt an. Zur Zeit steht die Gesundheitspolitik im Mittelpunkt der Diskussionen. Krankenkassen, kostenlose Gesundheitsversorgung von der Vorsorgeuntersuchung bis zur Intensivstation, sind selbstverständlich geworden. Niemand stellt sie in Frage. Aber sie müssen finanziert werden - von jedem einzelnen, ob er sie in Anspruch nimmt oder nicht. Das ist auch der Sinn des geteilten Risikos, der Solidarität aller Bürger. Aber wird sie nicht überfordert?

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In den letzten 15 Jahren ist der Betriebsaufwand der Spitäler auf das Sechsfache gestiegen, von 2,5 auf 15 Milliarden Schilling. Auch der Bund hat seine finanziellen Leistungen für diese Aufgaben mehr als verfünffacht, sie stiegen von 190 Millionen auf eine Milliarde. In einer Zeit, da Preisindizes oder Brutto-Nationalprodukt nicht einmal auf das Doppelte geklettert sind.

Oder ein anderes Thema, das zeigt, wie die Sozialpolitik anstößt: Die Inflationsrate des vergangenen Jahres betrug 7,2 Prozent. Die Erhöhung der Pensionen am 1. Jänner blieb bei 7 Prozent stehen. Die Rentendynamik, vor bald 15 Jahren eingeführt, um nicht gerade die Schwächsten immer als Opfer der Inflation zum Handkuß kommen zu lassen, kam nicht mehr mit. Sobald die Pensionen eine Minimalhöhe überschritten haben, frißt die Steuerprogression erst recht wieder einen Teil der Erhöhung - es bleiben 5,2 Prozent übrig.

Herbert Kohlmaier pointierte kürzlich in einem Vortrag: Sozialismus - richtiger wäre: sozialistische Sozialpolitik - bedeute, dem Menschen sieben wegzunehmen, davon zwei für Vergeudung und Bürokratismus auszugeben und ihm dann fünf als soziale Hüfe in die Hand zu geben. Längst hat die Sozialpolitik den Weg verlassen, auf dem sie im Zug einer Umverteilung den Reichen etwas wegnehmen sollte, um es den Armen zu geben. Längst sind alle geldverdienenden Staatsbürger mit einbezogen, aufzubringen, was heute ihre nicht arbeitenden Zeitgenossen brauchen. Später, wenn sie selbst nicht mehr arbeiten, soll ihnen die gleiche Sicherheit zuteü werden. Längst geht die Umverteilung nicht mehr schichtenspezifisch. Der soziale Ausgleich findet in jedem einzelnen Mitbürger im Durchlaufen der verschiedenen Lebensalter statt: Geburtenbeihilfe, Kinderbeihilfe, „Gratis”- Schulbuch, „Gratis”-Schulfahrt für das Kind, aufgebracht durch Sozialversicherungsbeiträge, Steueranteile, Beiträge für den Familienlastenausgleichsfonds vom Erwachsenen, der dann wieder als Alter seine Pension in Anspruch nimmt.

Aber alle diese richtigen und notwendigen Vorgänge laufen über Apparate, durch Systeme, die nicht nur das Wissen des Bürgers um diesen Sozialhilfeumlauf verkümmern, sondern auch - siehe oben - zu viel versickern lassen. Wer seinen Anspruch hat, nimmt ihn wahr, auch ohne es wirklich zu brauchen - wer überdurchschnittliche Hüfe nötig hätte, muß sich mit dem allgemeinen Hüfssatz begnügen, weü das System nicht mehr bereitstellen kann.

„Das zahlt ja die Krankenkasse!” ist das Argument, sich einzudecken, auch mit Kopfwehpülverchen, die nur den Kater vertreiben sollen. Daß aber letzten Endes die Krankenkasse nichts geben kann, was nicht vorher schon von uns selbst eingezahlt worden ist - egal ob über Beiträge oder Steuern - das ist ebenso in Vergessenheit geraten wie die Tatsache, daß die „Gratis”-Schulbücher und Schulfahrten von den Eltern aus den ihnen zustehenden Mitteln des Familienlastenausgleichsfonds bezahlt werden. Wer erwähnt dann noch, daß mit diesen Familiengeldern Verlage saniert, durch überdimensionierte Anhebung der Kindertarife - wer protestiert dagegen? - das Defizit der Verkehrsträger gemildert wird? Wobei schließlich die groteske Frage im Raum stehen bleibt, ob es nicht wurscht ist, aus welchen Quellen welche Defizite abgedeckt werden - denn letzten Endes sprudeln ja alle diese Quellen aus einem einzigen Reservoir, dem Fleiß unserer Mitmenschen.

Nicht egal aber sind die Umwegverluste - und die sind es, die die Sozialpolitik heute an die Wand drängen. Sind wirklich nur die starken Preissteigerungen der medizinischen Ausrüstungen auf Grund der Fortschritte der Wissenschaft an der Verfünffachung der Spitalskosten schuld? Oder die Ärztehonorare? Wie müßten erst die Kosten steigen, wenn alle jene, die sich jetzt Jahr für Jahr um ihre Honorare raufen müssen, als Kassenbeamten einen Achtstundentag genießen • würden, statt Tag und N acht auf Anruf einsatzbereit zu sein?

Sozialpolitik bedeutet, skizzierte Kohlmaier in jenem Vortrag, zunächst Einkommensumverteilung zugunsten sozial Schwacher, dann staatliche Eingriffe in die Vertragsfreiheit ebenfalls zugunsten sozial Schwacher und schließlich die Steigerung der Lebensfähigkeit des einzelnen durch Gemeinschaftshilfe. Jede Umverteilung wird gewisse Verlustquoten in Kauf nehmen müssen - sie möglichst gering zu halten, müßte ein Hauptanliegen der Sozialpolitik sein. Staat, Volk, Nation, Gesellschaft, was immer man als oberstes Kollektiv einsetzen will, nicht als anonyme Masse der „andern”, die zahlen sollen, zu sehen, sondern als Gemeinschaft, in der sich jeder einzelne nicht nur seiner Rechte, sondern auch seiner Pflichten bewußt ist - das müßte das Ziel des notwendigen Umdenkens sein.

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