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Umkehr zum Kind

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Warum haben früher die Menschen Gott gesehen und sehen sie ihn heute nicht mehr? So fragt in einer jüdischen Legende ein Schüler seinen geistlichen Lehrer. Die Antwort des Alten lautet: Weil sich heute keiner mehr so tief bücken mag.

Man kann diese Geschichte auch christlich lesen: als Weihnachtsgeschichte. Weihnachten ist ja ein Fest gegen den Stolz, ist die Zumutung, sich niederzubeugen zur Krippe und zum Kind darin. Weihnachten ist die Zumutung, Gott im Kind, Gott als Kind zu sehen.

Immer noch wird dieser Anspruch am deutlichsten sichtbar in Bethlehem. Nur gebückt und über eine hohe Schwelle tretend, erreicht man dort das Innere der altchristlichen Geburtskirche.

Vor Jahrhunderten haben die Christen das Tor vermauert und allein ein „Nadelöhr“, eine Portiuncula, offen gelassen, um Andersgläubige zu hindern, beritten in die Kirche einzudringen.

Unfreiwillig haben sie so ein großartiges Symbol geschaffen: Wer das Christus- kind sucht, muß selbst etwas von der Art des Kindes annehmen, muß sich klein machen. Er muß tun, was der erwachsene Jesus erstaunten, verdrossenen, ängstlichen und bösartigen Erwachsenen geboten hat: Werden wie ein Kind, umkehren zum Kind, das man gewesen ist.

Neutestamentliche Mahnungen an die Christen, sie mögen den ihnen einwohnenden Heiligen Geist nicht betrüben oder gar auslöschen, schützen auch das kostbare Charisma der Gotteskindschaft.

„Allen, die ihn aufnahmen, gab er Vollmacht, Kinder Gottes zu werden“, liest man im Prolog des Johannesevan- geliums - einem Text, der in der dritten Weihnachtsmesse verkündet wird.

Wer aber wäre denn so ein Kind Gottes, gleichviel ob sieben oder siebzig Jahre alt? Es wäre ein Mensch, der die

Riegel zu Gott und den Menschen hin geöffnet hat: Reiß ab, wo Schloß und Riegel für!

Es wäre ein spielender, lachender, weinender, armer (weil auf Gott und Menschen verwiesener) und eben darum auch reicher Mensch. f

Solcher Kinder gibt es allemal zu wenige inmitten so vieler verdrossener Erwachsener, denen allenfalls der Psychiater zum „Kinderarzt“ wird bei dem Versuch, in ihnen das von Nietzsche beschworene „Kind im Manne“, zum Spielen zu erlösen.

„Einer wird kommen und ihnen das Grün der Frühlingsknospe an den Gebetsmantel nähen und als Zeichen gesetzt an die Stirn des Jahrhunderts die Seidenlocke des kindes“, sagt Nelly Sachs, Nobelpreisträgerin 1966, in einem ihrer Gedichte.

Diese Hoffnung ist nicht die Seidenlocke des Kindes, sondern eher das Kainsmal des Krieges.

Ein kollektiv schlechtes Gewissen veranlaßte die Proklamation des Jahres 1979 als „Jahr des Kindes“ - zwanzig Jahre, nachdem die UNO- Generalversammlung eine Charta des Kindes beschlossen hatte.

Das dort dem Kind Zugebilligte, nämlich Liebe, Fürsorge, Geborgenheit in der Familie, Recht auf Ausbildung einer eigenständigen Persönlichkeit, Verurteilung von Kinderarbeit, Brutalität und Mißbrauch der Kinder zu kommerziellen Zwecken, ist millionenfach nicht eingeholt worden.

Man hat in diesem Jahrhundert gewiß viel über das Kind gelernt und viel für das Kind getan. Dennoch erscheint auf den Fernsehschirmen immer wieder Düsterstes, Nichthinzunehmendes aus dem internationalen Panorama dieser Welt,als Kinderwelt: das hungernde, verhungernde Kind, das Kind auf der Flucht, das im Krieg getötete Kind.

Man hätte sich außerdem vorzustellen, was kaum ins Bild und bestenfalls zu Gehör kommt: das an Liebe unterernährte, das unerwünschte, das abgetriebene Kind, das durch Selbstmord endende, das ökonomisch und moralisch (durch Pornokraten) aus genützte Kind.

Wer wird sich all dieser Kleinen erbarmen, ihnen wirklich helfen? Wohl nur

Menschen, die das Kind in ihnen selbst nicht erstickt, nicht begraben haben. Menschen, die mit Phantasie für das Gute ausgerüstet sind, weil sie das Kind im Manne und der Frau, die sie selbst sind, spielen lassen. Menschen auch, die noch kindlich staunen können trotz grauenhafter Dinge ringsum. Menschen schließlich, die vertrauend einschlafen können trotz des Gewichtes begründeter Sorgen.

Wo sind solche Menschen? Man müßte sie vor allem unter den Christen finden, in Gemeinschaft mit der kleinen Karmeliterin Theresia vom Kinde Jesu; mit Franz von Assisi auch, der der Verehrung des Jesuskindes eine neue Gestalt gab, als er vor mehr als 700 Jahren in heiligem Spiel eine Krippe aufstellte mit einem leibhaftigen Kind darin: ein Bild des Chri- stuskindes, das er längst zuvor in seinem Herzen inthronisiert hatte.

Wo immer Freunde des Kindes sind - Freunde des schwarzen, weißen und gelben, des unter- oder überernährten, des geborenen oder ungeborenen Kindes -, da ist auch der Platz der Christen, und viele von ihnen füllen ihn beispielgebend aus.

Stellvertretend für sie alle sei das Bild der jüngsten Trägerin des Friedensnobelpreises, Mater Teresa, beschworen: das Bild einer einfachen Frau mit einem aufgelesenen, an Leib und Seele unterernährten Kind im Arm. Jedermann weiß, woher diese im biblischen Sinne „starke Frau“ die Kraft leitet, die sie ermächtigt, inmitten des riesigen Armenhauses Kalkutta ihr „Haus des reinen Herzens“ offenzuhalten.

Ihre Freundlichkeit gegenüber dem Menschenkind (mag es charmant oder häßlich, jung oder alt sein) nährt sich aus der Freundschaft mit dem Kind von Bethlehem. Sie ist einer jener Menschen, die den Christus nicht nur bis Bethlehem kommen lassen, sondern weiter, bis in ihr Herz.

„Eur' Herz zum Tempel zubereit' “ singt ein altes Adventlied. Der geistliche Dichter Angelus Süesius hat Gleiches in einem großartigen Doppelzeiler formuliert: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du wärest doch verloren!“

In einer Epoche, die von damals Lebenden als Spätzeit, als greisenhaft empfunden wurde, ist Gottes Wort Mensch geworden, leise als Kind in die Welt gekommen und hat so die Hoffnung erfüllt, daß ein Kind-König alles erneuern werde.

Wird dieses Kind heute, wieder in einer Spätzeit, genug Menschen finden, die ein Herz zu verschenken haben?

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