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UMS UBERLEBEN

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Überlieferte Traditionen, alte Kultur- und Lebensformen, die mit der bäuerlich bestimmten Kulturlandschaft entstanden sind und aus ihr leben, sind in einem beträchtlichen Maß und in rasantem Tempo zum Sterben verurteilt.

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Überlieferte Traditionen, alte Kultur- und Lebensformen, die mit der bäuerlich bestimmten Kulturlandschaft entstanden sind und aus ihr leben, sind in einem beträchtlichen Maß und in rasantem Tempo zum Sterben verurteilt.

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Altvertraute Traditionen und Techniken, etwa der Flachsverarbeitung, sind Geschichte, eignen sich bestenfalls für Museen und Nostalgiker. Um so mehr sind partiell und regional neue Kulturformen im Entstehen, entwickeln sich aus Traditionen und Wurzeln, werden sehr stark, sehr lebendig. Es ist keine Kulturuntergangsstimmung angesagt.

Untrügliche Hoffnungszeichen sind in den zahlreichen und immer zahlreicheren, mutigeren, lebendigeren neuen Initiativen im Zusammenhang mit eigenständiger Regionalentwicklung und dem ökologischen Bewußtsein gesetzt. Das sind mehr als 500 Bürgerinitiativen im Alpengebiet, davon allein etwa 130 in Tirol. Das sind neue Regionalismusbewegungen, (leider) meist sehr rechtslastig-reaktionär wie in der „Lega lombarda”, aber auch fortschrittlich-emanzipativ-alternativ. Der massive EG-Druck, das erwartete Ausgesetztsein in einem riesigen Apparat von Verwaltung und Zentralbestimmung, bewirkt bei vielen Resignation, setzt aber gleichzeitig oppositionelle Kräfte frei, ermutigt aktive Menschen im Berggebiet zu Eigenständigkeit, Selbstbewußtsein, Regionalbewußtsein, einer Stärkung eigener Kultur aus alten Wurzeln heraus. Das „Europa der Regionen” könnte unter diesen Zeichen eine Chance sein für das geistig-kulturelle Leben und Dasein der Alpenbewohner, insbesondere auch der Bergbauern, hier hat die massentouristische Anpassung vielfach eine Aufgabe der bäuerlichen Identität bewirkt. Der ehemals stolze, freie, autonome Älpler wird Liftbügelhalter, Snowkatzen-fahrer, Diener.

Selbstbewußtsein erwacht

Volkskultur, Volksmusik, alpine Bautradition sind massentouristisch verkommen zu billiger Folklore, Andenkenkitsch, Lederhosenimitation, plumper Anbiederung bis hin zu völliger Mutation und Degeneration. Landwirtschaftlich nutzbare Flächen in touristischen Gunstlagen werden mehr und mehr geopfert. Aus dem Melken der Kühe wurde das Melken der Gäste und das Gemolken werden durch die touristische Lobby. Maß und Hausverstand sind verloren. Aber je stärker diese Verluste als echte Substanzverluste erkannt werden, je mehr mächtige Tourismusindustriegiganten und Energielobbys ganze Bergtäler verbetonieren, mit riesigen Staudämmen zerstören oder „frei werdende” Bergtäler (wie etwa im Pie-mont) mit Militärschießplätzen überdecken wollen, je mehr sterbende Bergtäler das Dahinsiechen ankünden, um so stärker entsteht Gegendruck, entsteht Aufstand von unten.

Selbstverständlich sind alte Kulturtechniken und vor allem Kultur-Erfahrungen - denken wir nur an das reiche Wissen um die richtigen Zeiten der Holzschlägerung - dem neuen Denken und Handeln zugrunde zu legen. Altes muß zeitgemäß adaptiert werden. Überlieferte Volks-Kultur muß in Quellen des Fortschritts verwandelt werden.

Die Suche nach den Wurzeln der ' eigenen Kultur ist selbstverständlich radikal (Wurzel = radex). Von eingezäunten Bauernidyllen und Ghettos in Almen und Museen haben wir nichts. Hoffnungsvolles, Erlebnisreiches, Spannendes, Ermunterndes spielt sich auf vielfache Weise an vielen Orten der Alpen ab.

Aus der intensiven Beschäftigung mit neuen Produkten, angepaßten Produktionsmethoden, mit neuartigen

Techniken der Verarbeitung, nach vielen Diskussionen und nach ersten kleinen Erfolgen gibt es eine neue Gruppe sehr selbstbewußter, innovativer und wacher Bauern. Diese Bauern und Bäuerinnen haben neues Selbstbewußtsein entwickelt. Sie haben Vertrauen in die bergbäuerliche Zukunft.

Entscheidende Fakten sind

□ Es überwiegt der sensible, der ökologische Umgang mit der Natur und das tiergerechte Verhalten.

□ Tendenziell besteht eine Abkehr vom Blut-und-Boden/Scholle-Den-ken, das uns aus der Nazizeit in schrecklicher Erinnerung sein müßte, aber nach wie vor überwiegt bäuerliches Funktionärsdenken bis heute. Tiroler Jungbauern haben vor fast zehn Jahren in ihrem bergbäuerlichen Manifest propagiert, daß Grund und Boden nicht so sehr als Besitz, sondern als Lehen zu verstehen wären, das von Kindern und Kindeskindern entliehen wurde.

□ Neueste Aktionen beweisen das Wiederentdecken volkskultureller Traditionen, von alten Bräuchen und sittlichem Verhalten. Hundert besorgte Frauen aus dem Kanton Graubünden zogen am Anna-Tag 1987 über die uralte Steintreppe zum Prasigno-lapaß und zur Alp Madris. Sie unternahmen diesen „Bitt”- und Protestgang zum Schutz der bedrohten Berglandschaft, gegen einen gewaltigen Stausee. Und das alles mit alten Formeln und Ritualen an einem uralten Kult-Termin, und dann errichteten Hirten und Hirtinnen in altertümlicher Tradition eine Steinfigur, nannten sie „Steinfrau”, nahmen Steine nach Soglio mit und errichteten dort ein kleines Stein-Mahnmal. Und seit 1987 brennen am zweiten Samstag im August auf vielen Almen die Mahnfeuer gegen Zerstörung und Ausbeutung der Bergtäler, der Almen und Matten. 1991 hat sich die Aktion auch auf Österreich ausgeweitet, und es brannten 700 Feuer auf Almen und Bergen. 1992 waren es bereits über 1.000. Das ist neues Kulturverständnis. Alte Feuerrituale sind aktuell. In Tirol haben junge Menschen die kirchlichen Herz-Jesu-Feuer, die ehemals als Sonnwendfeuer geübten Feuerbrauche, zeitgemäß umfunktioniert. Eine große Rammenschrift auf den Bergen kündete „EG nie”!

Also erproben und erfahren umweltbewußte, vorausdenkende Menschen in den Alpen, unter ihnen viele Bergbäuerinnen und Bergbauern, das neue Leben und Überleben in den Berggebieten. Das Erproben und die Widerstände gehen weiter. Hoffnungen sind gesetzt. Es wächst ein neues Bauernbewußtsein. Das ist keine Pauschal- und Globalrettung der Berglandwirtschaft, aber der notwendigen Lebensgrundlagen. Es sind die Pioniere. Jemand muß anfangen.

Mit viel „Mut, Witz und Widerstand” werden wir uns ein vielleicht schönes, lebenswichtiges Leben im Berggebiet sichern. Dann werden wir auch die Hilfen und die gerechte

Bezahlung unserer Leistungen einfordern. Mit den billigen Almosen der sogenannten Bergbauern-Förde-rung, wie sie in Österreich betrieben wird, werden wir uns nicht abspeisen lassen, kann uns nicht der Mund gestopft werden. Die Bergbauernförde-rungen von Bund, Land und Gemeinde zusammen machen für einen extremen Bergbauernbetrieb in Zone IV auf über 1.600 Meter unter schwierigsten Bedingungen kaum 35.000 Schilling pro Jahr aus. Bauern dienen und werden mißbraucht, nur wenige sind aufgestanden. Auf diese Hoffnungsträger setzen wir.

Der Autor ist Volkskundler, freier Schriftsteller und Obmann von PRO VITA ALPINA -Verein zur Förderung der kulturellen, gesellschaftlichen, ökologischen und wirtschaftlichen Entwicklung im Alpenraum.

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