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Unabhängig dank einem Mißverständnis?

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Verdankt Osterreich seine Wiederherstellung im Jahr 1945 einem Mißverständnis? War die Moskauer Deklaration über die Null- und Nichtigkeit des Anschlusses an Deutschland bloß ein Einfall der britischen psychologischen Kriegführung, der Aufstände gegen Hitler auslösen sollte? Machte Stalin den Propaganda-Einfall dann zum Instrument seiner Politik? Dies behauptet jedenfalls der kanadische Historiker Robert H. Keyserlingk.

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Verdankt Osterreich seine Wiederherstellung im Jahr 1945 einem Mißverständnis? War die Moskauer Deklaration über die Null- und Nichtigkeit des Anschlusses an Deutschland bloß ein Einfall der britischen psychologischen Kriegführung, der Aufstände gegen Hitler auslösen sollte? Machte Stalin den Propaganda-Einfall dann zum Instrument seiner Politik? Dies behauptet jedenfalls der kanadische Historiker Robert H. Keyserlingk.

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Los Angeles, Herbst 1991. Die Österreich-Forschung in Amerika sei eine „Cottage-Industrie", meinte ein Teilnehmer an der 15. Jahreskonferenz derinterdisziplinären „Deutschen Studiengesellschaft" in Los Angeles, der insgesamt weit über 1.000 Wissenschafter in den USA, Deutschland und Österreich angehören.

Nach „Heimarbeit" schauen - trotz der immer knapper werdenden Mittel und des öffentlichen Desinteresses -die vorgestellten Forschungsergebnisse zum Thema Österreich, die von amerikanischen und den 15 extra aus Österreich eingeflogenen Wissenschaftern vorgestellt wurden, aber nicht aus.

Mit aufschlußreichen neuen Erkenntnissen konnte Robert H. Keyserlingk, Historiker an der Universität in Ottawa, Kanada, die Hintergründe des Zustandekommens der „Moskauer Deklaration" der drei alliierten Mächte USA, Großbritannien und Sowjetunion im Oktober 1943 erhellen. Die drei Siegermächte des Zweiten Weltkrieges kamen damals überein, „daß Österreich, das erste freie Land, das der Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen ist, von der deutschen Herrschaft befreit werden muß", der Anschluß Österreichs an Nazi-Deutschland am 15. März 1938 „null und nichtig" sei und Österreich als freies Land wiederhergestellt werden sollte. Diese Moskauer Deklaration diente 1945 als wichtigste Grundlage zur Errichtung der Zweiten Republik, wenngleich die Siegermächte die Frage der österreichischen Mitverantwortung an den Nazi-Verbrechen offen ließen.

Das Neue an den umfangreichen Archivstudien Keyserlingks in Washington und London liegt darin, daß diese im Eigenverständnis für Österreich so wichtige und damit staatsstiftende Deklaration nicht den politischen und diplomatischen Willen der Siegermächte zum Ausdruck gebracht hat, sondern lediglich als Instrument der „psychologischen Kriegführung" diente, ersonnen und verfaßt in den Stäben für „Sonderoperationen und politische Kriegführung" der britischen Armee.

Präsident Roosevelt und Premierminister Churchill, ihre beiden Außenminister Hull und Eden und deren diplomatische Stäbe hätten in der Zeit von 1942 bis 1945 in allen Überlegungen für eine Nachkriegsordnung Europas nie an die Wiedererrichtung eines freien und unabhängigen Österreich gedacht. Österreich sollte nach dem politischen Willen der USA und Großbritanniens, ganz im Gegensatz zur Moskauer Deklaration, lediglich eine zentrale Rolle in einer neu zu bildenden „Donaukonföderation" zugewiesen bekommen.

Zweck: Destabilisierung

Keyserlingk kann nachweisen, daß die britischen Stabsstellen für politische Kriegführung - und nicht das Außenministerium - sich durch ein Propagandadokument, das von den Außenministem Hull, Eden und Mo-lotow bei ihrem Treffen im Oktober 1943 in Moskau ausdrücklich als solches genehmigt wurde, eine DeStabilisierung Nazi-Deutschlands durch Aufstände der Österreicher erwartet haben. Die Kriegführung der Alliierten habe nicht geglaubt, allein durch militärische Mittel einen Sieg gegen Nazi-Deutschland erzielen zu können. Die Moskauer Deklaration sei daher von den Politikern und Diplomaten ausschließlich als Kriegspropaganda verstanden worden, der endgültige Status Österreichs sollte entsprechend den jeweiligen Gegebenheiten erst nach dem Krieg geklärt werden. Die Moskauer Deklaration wurde in den Berichten über die Konferenz nach Washington nicht einmal erwähnt!

Robert Keyserlingk kann mit seinen Archivstudien erklären, warum es auch nach 1943 zu der widersprüchlichen Haltung der britischen und US-amerikanischen Behörden gegenüber Flüchtlingen aus Österreich, die nicht selten als „Feinde" und Angehörige eines kriegführenden Landes betrachtet wurden, kom-

men konnte. Oder warum selbst im Jänner 1945 das Kriegskabinett der US-Regierung glaubte, daß „eine Unabhängigkeit allein keine ausreichende Grundlage für die Zukunft Österreichs" sein könne. Erst die zwingenden Gegebenheiten, die durch die Österreich-Politik der Sowjetunion nach dem Kriegsende geschaffen wurden, hat die beiden

Westmächte zu einem schnellen Einlenken sowie dazu bewogen, schließlich der Wiederherstellung eines souveränen Österreich zuzustimmen, wie aus den bisher bekannten Noten des amerikanischen und britischen Außenministeriums an die Regierung Österreichs hervorgeht.

Die österreichische Regierung habe 1945 die Moskauer Deklaration, so der aus Vorarlberg stammende Günther Bischof, Historiker an der Universität von New Orleans, aber als politische Absichtserklärung der Siegermächte und nicht als psychologisches Propagandamittel verstanden. Dieses Mißverständnis hätte es dem offiziellen Österreich erlaubt, sich vor der moralischen Mitverantwortung vieler Österreicher an den Nazi-Verbrechen politisch zu drücken und eine bequeme „Opfertheorie" ohne ein „entsprechendes Schuldbewußtsein" als Gründungslegitimation Österreichs zu „konstruieren".

Eine junge Historikergeneration habe daher die unverzichtbare Aufgabe, die Verstrickung vieler Österreicher in die Nazi-Verbrechen aufzuarbeiten, um der bisher verbreiteten „staatstragenden Opfertheorie" ein adäquates Bild von der Rolle Österreichs während des Zweiten Weltkriegs gegenüberzustellen.

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