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Unauffällig Geschichte machen

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Es scheint, als hätte niemand die Bitte des ungarischen Re- gierungschefs Jözsef Antall um hun- dert Tage Geduld im Mai dieses Jahres besonders ernst genommen. Auf jeden Fall will die Opposition, ob nun liberal, radikal oder soziali- stisch, der christlichen Koalition der Mitte keinen Katalog der uner- füllten Versprechungen präsentie- ren.

Diese edle Geste ist freilich nicht

nur der weisen Einsicht zu verdan- ken, daß es sich in Ungarn vor drei Monaten um keinen Regierungs-, sondern um einen Systemwechsel gehandelt hat; darüber hinaus steht schon längst fest, daß weder Regie- rung noch Opposition über ein wirksames Programm verfügen. Der König ist also auf beiden Seiten nackt; es gilt, dazu ein vornehmes Gesicht zu schneiden.

Dabei gibt es da Momente, deren man sich keineswegs schämen soll- te. Jözsef Antalls Mannschaft ist es zum Beispiel gelungen, die Zah- lungsfähigkeit des Landes zu be- wahren. Die Konsolidierung des Staatshaushaltes erfolgte freilich unter Druck des IMF (Internatio- naler Währungsfonds) um den Preis rücksichtsloser Verteuerungen, die bei der Bevölkerung auf heftige Ablehnung stoßen; der Staatskon- kurs ist auf jeden Fall ausgeblieben und dies darf bei von den Vorgän-

Die ersten 100 Tage des ungarischen Regierungschefs Jözsef Antall

gern geerbter Westverschuldung in der Höhe von mehr als 21 Milliar- den Dollar keineswegs unterschätzt werden.

Nun ist aber die Inflation auf 27 Prozent gestiegen und von einem wirksamen Sanierungskonzept fehlt immer noch jede Spur. So ist lediglich bei sieben der mehr als 50 seit langem mit Verlust arbeiten- den Großbetrieben ein Konkurs- verfahren eingeleitet worden. Der Rest wird nach wie vor mit staatli- chen Subventionen am Leben ge- halten. Genau wie in alten Zeiten. Von Investitionsförderung wird nur geredet - folglich sind kapitalstar- ke Geschäftsleute aus dem Westen stets abgeneigt, Ungarn als ein mögliches Betätigungsfeld zu be- trachten. Die Gründung eines

gemischten Unternehmens ist nämlich unverändert mit umständ- lichen Prozeduren verbunden.

Der Alltagsbürger, der fast täg- lich die Zaubersprüche über die Umstellung auf die Marktwirt- schaft hört, hat immer mehr Angst vor den Massenentlassungen. Er weiß zu genau, daß der Regierung weder die Umschulungsstätten noch die Wohnungen dazu zur Verfügung stehen.

Zum Abschluß der Sommerferien sind auch noch Risse in der Koali- tion deutlich geworden: Die Partei der Kleinen Landwirte besteht unnachgiebig auf eine Bodenre- form, die auf dem Lande die Wie- derherstellung der Besitzverhält- nisse aus dem Jahre 1947 vorsieht. Das Heiligtum des Eigentums müsse

endlich garantiert werden, heißt es immer wieder - eigenartig dabei ist lediglich, daß dieser zweifelsohne unantastbare Grundsatz lediglich ab 1947 und dann auch ausschließ- lich für den Boden gelten soll.

Die Weigerung des Demokraten- forums (MDF), ein derartiges Ge- setz auszuarbeiten, ist allerdings nicht auf diesen Widerspruch zu- rückzuführen; es wird vielmehr befürchtet, daß der Logik der Din- ge nach der Staat dann jede Art von Staatseigentum an die eigentlichen Besitzer zurückgeben müßte. Und so konservativ wollen Antall und seine Mannschaft dann doch nicht sein. Da nimmt man lieber den Verdacht Konzeptlosigkeit auf sich, spielt auf Zeit und riskiert mittel- fristig den Verlust eines Koalitions- partners.

Regierung und Opposition sind sich weitgehend darin einig, daß die für den 30. September ange- setzten Kommunalwahlen eine der wichtigsten Etappen des System- wechsels bedeuten werden. Die Ablösung der nach sowjetischem Muster eingerichteten örtlichen Räte durch autonome Selbstverwal- tungen setzt aber Fachkräfte und Fachwissen voraus, worüber die meisten Vertreter der Parteien vor Ort nicht verfügen. Wenn dem Land bei den im Frühjahr stattgefunde- nen freien Wahlen die parteipoliti- schen Manipulationen erspart worden sind, so wird nun auf die- sem Gebiet alles rücksichtslos nach- geholt.

Im Bereich der Außenpolitik mußte Jözsef Antalls Regierung zunächst einmal mit der Illusion des baldigen EG-Beitritts Ungarns abrechnen; sie tat es mit Haltung. Haltung ist auch das einzige, was sie in ihrer Rumänienpolitik be- wahrt. Denn auf diesem Gebiet ist es ihr nicht gelungen, die Initiative zu ergreifen. Antalls vorwiegend aus Historikern bestehende außen- politische Mannschaft verfaßt eif- rig Protestnoten gegen die Unter- drückung der Grundrechte der über 2,5 Millionen starken magyarischen Minderheit in Siebenbürgen. Daß sie damit auf jeden Fall durch und durch europäisch wirkt, läßt sich nicht leugnen. Das Ergebnis ist freilich eine andere Frage.

Jözsef Antall, der sich auffallend selten im Plenarsaal des Parlamen- tes aufhält, hat sich zweifelsohne als ein Politiker profiliert, der mit den Posen des Möchtegern-Staats- mannes auf seinem Wahlplakat wenig Gemeinsames hat. Denn in Wirklichkeit ist er jemand, der Geschichte machen muß. Nun scheint er zu wissen, daß dies auch leise und unauffällig geht.

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