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Unaufhaltsame Ghettoisierung?

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Eine Generation ohne Ankunft. So nannte Wolfgang Borchert, wenige Jahre nach Kriegsende in einem Schweizer Sanatorium verstorben, seinen Jahrgang. Viele Abschiede, zu viele, hätten sie erleben müssen, um noch wirklich an eine Ankunft glauben zu können. Man ist versucht, diesen Satz dreißig Jahre später auf die Kirchen Osteuropas anzuwenden. Sie haben nicht nur Ballast abgeworfen, Bindungen hinderlicher Art gelöst, die hierzulande oft genug als unwillkommene Helfer bereitstehen, sondern neuen Ballast übernommen, neue, oft härtere und mehr kompromittierende Bindungen eingehen müssen. Der neue Anfang, den viele sich vor dreißig Jahren aus dem Wegfall jeder Meistbegünstigung erhofften und der sogar beispielgebend für die Kirchen in nichtsozialistischen Ländern zu sein beanspruchte, ist längst nicht mehr im Blickfeld. Rette sich, wer kann. So heißt die Parole, auch wenn daraus in der Öffentlichkeit, in einem an Falschmünzerei grenzenden Verfahren, der Jubelruf wird, von den Knechtungen des Kapitalismus befreit zu sein. Eine neue Ankunft konnte daher aus einem dermaßen unglaubwürdig gewordenen Anfang nicht erstehen. , Dies gilt, mit Unterschieden, für sämtliche Kirchen Osteuropas. Ihre Geschichte, ihre Konfessionen, ihre Öffentlichkeitswirkung — da war wenig, was sie miteinander verband. Zwischen einer lutherischen Kirche Ostdeutschlands und der auto-kephalen serbischen orthodoxen Kirche etwa lagen Welten, die Katholiken Polens und diejenigen Kroatiens hatten völlig verschiedene Um so mehr muß erstaunen, daß die vergangenen dreißig Jahre, die Zeit also seit der „Befreiungsehr-ähnliche,-völlig ''ubereihsttrftmende Merkmale “querdurch alle Unterschiede hindurch entwickelten: Zwiespalt zwischen öffentlicher, kirchenamtlicher Rede und zu Hause, im kleinen Kreis geführten Gesprächen, widerspruchslose Enteignung und ebenso widerspruchsloser Empfang von staatlichen Geldern, Schwanken zwischen Treuekundgebungen gegenüber staatlichen Vertretern und Abgrenzungen gegen deren Abso-lutheitsanspruch, vor allem, was die Jugend angeht. Die Reihe ließe sich beliebig verlängern. Wenn, um ein konkretes Beispiel der jüngsten Zeit zu nennen, die Verhandlungen zwischen Vatikan und ungarischer Regierung zur Besetzung vakanter Bischofsstühle durch angepaßte Kleriker führte, so geschah das in völliger Absenz derer, um die es angeblich geht: der Gläubigen. Der auch bei uns zu beobachtende und wohl zur Kirche wesentlich gehörende Graben zwischen gelebten Glaubensvorstellungen und kirchenamtlichen Darstellungen ist in Osteuropa — und jetzt muß auch die UdSSR mitgezählt werden — so tief, daß man öffentlichen Verlautbarungen seiner Kirchenmänner, auch und gerade dann, wenn sie im Westen auftreten, zutiefst mißtrauen muß.

An die Stelle oft allzu großer Staatstreue — für die russische und serbische Orthodoxie ebenso kennzeichnend wie für den kroatischen oder slowakischen Katholizismus und auch den deutschen Protestantismus — ist ein Freund-Feind-Denken getreten, das die Versöhnungsbotschaft der Kirchen sterilisiert. Stand früher der Feind links, so steht er jetzt rechts. War die Monarchie für die Orthodoxen des Balkans der Erzfeind, so ist es jetzt der „Imperialismus“ des Westens. Vokabeln aus dem Sprachschatz der marxistischen Abgrenzungsstrategen, 'dl1'zunehmend jeder ideblogisehen Koexistenz den Kampf ansagen, finden in kirchliche Verlautbarungen Eingang und machen die gleichzeitig und wortreich beschworene Friedensbereitschaft zunichte. Dabei ist längst der Punkt überschritten, bis zu dem man — wie im Fall des verstorbenen tschechischen Professors Hromadka, des Initiators der „Prager christlichen Friedenskonferenz“ — guten Willen bei gleichzeitiger Befangenheit unterstellen konnte. Jetzt wird bewußt Partei ergriffen. Unklar sind die Motive. Um so mehr, als etwa die polnische Kirche als einzige und mit Erfolg diese Anpassung nicht mitmacht.

Dreißig Jahre nach Kriegsende, im Jubeljahr allerorts in Osteuropa begangener „Befreiungs“feiern, sind seine Kirchen in der Mehrzahl unfreier als je. An die Stelle alter nationalistischer oder monarchistischer, chauvinistischer oder völkischer Bindungen, wie sie bis dahin überall in der Welt bei Kirchen anzutreffen waren, sind in denen Osteuropas nach anfänglichen Protesten, Martyrien und tapferen Widerstandsbezeugungen Lähmung beim Kirchenvolk und Anpassung bei den Kirchenleitungen getreten. Ausnahmen, wie etwa bei den Baptisten der UdSSR, bestätigen dies nur.

Erleichterungen müssen teuer erkauft werden. In der DDR war vor sechs Jahren die organisatorische Trennung von der gesamtdeutschen Kirche der Preis für manche Möglichkeiten, die der dortige Protestantismus anderen Ländern Osteuropas voraus hat: Jugendfreizeiten, diakonische Mitarbeit in öffentlichen Anstalten etwa. In Ungarn zahlte man, wie schon erwähnt, mit der Einsetzung angepaßter katholischer Bischöfe dafür, daß eine sehr bescheidene Garantie für die Erteilung von Religionsunterricht seitens des Staates gegeben wurde. In Rumänien müssen alle drei Kirchen — Orthodoxe, Katholiken und Protestanten*— je einen Parlamentsabgeordneten stellen, ohne nennenswerte Gegenleistung. Selbst • in Jugoslawien reißt die Kette administrativer Einschüchterungen, vor allem gegenüber den Katholiken, nicht ab und bedroht immer wieder, um nur ein Beispiel zu nennen, die Herausgabe des hervorragend redigierten Zagreber Kirchenblatts „Glas Kon-cila“.

Und der Westen? Hier spricht man, mit Ausnahmen, schon lange nicht mehr von den Christen der Zweiten Welt, sondern von den Aufgaben, die in der Dritten Welt erfüllt werden müssen. Wie auf geheime Verabredung begann Anfang der sechziger Jahre ein soziales und gesellschaftliches Engagement zugunsten unterprivilegierter Völker Lateinamerikas, Afrikas und Asiens, das als solches den Kirchen zu hoher Ehre gereicht. Hundert Jahre, nachdem die Mission, von angelsächsischen Ländern aufbrechend, die Herzen und Hände der Christen in Bewegung setzte, brach nun eine Sympathie- und Hilfswelle los, die ohne Zweifel ihre Quellen vor allem in Kriegs-, Nachkriegs- und Ökumeneerlebnissen hat. Nur — man vergaß zunehmend den Lazarus vor der eigenen Tür: Der ferne Nächste wurde Konkurrent dessen, der schon viel länger unter die Räuber gefallen war.

Genau von diesem, fast datierbaren Augenblick an — Hirtenwqrte der Evangelischen Kirche Deutschlands etwa aus den sechziger Jahren erlauben diese Datierung — wurde den Christen Osteuropas zunehmend und schmerzlich bewußt, daß sie nur noch sehr begrenzt mit der geistlichen und materiellen Hilfe des Westens rechnen dürfen. Daß diese Entwicklung parallel zu der eilfertigen politischen Aufwertung osteuropäischer Regierungen durch den Westen ging, dürfte kaum ein Zufall sein.

Die Entwicklung verschärfte sich für die osteuropäischen Christen, als die von den meisten unter ihnen “wenig 'geliebten angepfmöraf^r-f chenführer und Professoren — bis dahin eine verschwindende Minderheit — Aufwind nun auch von Gesinnungsfreunden im Westen bekamen. Wer dort paradoxerweise mit sehr freiheitlicher Staatsordnung nicht zurechtkam, unterstützte jene Mitchristen in Osteuropa nachhaltig, die sich mit dem sozialistischen Staat arrangierten. Diese, Tendenz hält an und hat mehr Zulauf, als der Normalchrist vermutet.

Dreißig Jahre nach Kriegsende besteht nun die Gefahr, daß — als Reaktion auf das Totschweigen der geistlich Verstummten Osteuropas — Wanderprediger mit oft nicht eindeutigen Motiven in Westeuropa auf eigene Faust herumziehen und das Bild von ständig verfolgten, im Martyrium lebenden Christen Osteuropas entwerfen. Dies stimmt nun ebensowenig, wie jenes, an das uns die versöhnlichen Mitteilungen osteuropäischer Kirchenführer glauben machen wollen. In Tat und Wahrheit grassiert „drüben“ eine von Staats wegen geschickt manipulierte Entkirchlichung, während die Ghettoisierung der Christen unaufhaltsam fortschreitet. Was die Zukunft bringt, weiß keiner. Manche Zeichen deuten, in ganz verschiedenen Regionen Osteuropas einschließlich der UdSSR, auf neues Leben aus den Ruinen. Nur: Es sollte niemand, weder dort noch hier, die gewaltsam herbeigeführten Ruinen, hinaufstilisieren und zum Kirohen-ideal erheben. Denen, die sich in diesen-Buinen noch bergen,,ist damit ^ael^scMeehteste Disast erwiesesiwiog

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