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Und doch: ein Keim von Freiheit

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Unsere Zeit ist an Schreckerlebnissen nicht arm. Und dennoch erfaßte ein Schrecken besonderer, Art die. Menschen der freien Welt, als am 21. August 1968, also vor sieben Jahren, das Radio meldete, daß die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschiert wären.

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Unsere Zeit ist an Schreckerlebnissen nicht arm. Und dennoch erfaßte ein Schrecken besonderer, Art die. Menschen der freien Welt, als am 21. August 1968, also vor sieben Jahren, das Radio meldete, daß die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschiert wären.

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Das Jahr 1968 war ein unruhiges Jahr in Europa. Nicht nur in der freien Welt brodelte es, auch in den Staaten des Ostblocks. In der Tschechoslowakei blühte der sogenannte „Prager Frühling“, der Versuch, eine „liberale“ Form des Kommunismus zum Tragen zu bringen. Nach den blutigen Aufständen in Ostberlin im Jahr 1953, dem blutigen Kampf Ungarns im Jahr 1956, war dieser „Prager Frühling“ der erste unblutige Versuch, zwar nicht aus dem System des Ostblocks auszuscheren, aber eine eigene Form, eine humanere Form des Lebens zu finden. Die Reaktion Moskaus war die gleiche wie seinerzeit in Ostberlin oder Budapest: Dieser Prager Frühling war zu Ende, kaum daß er noch begonnen hatte. Ein Reif fiel in der Frühlingsnacht...

Und seither, marschiert die Moldau-Republik fester denn je in den Reihen des Ostblocks.

Die Konferenz von Helsinki hat 1975 diese Situation scheinbar für immer zementiert. Hatte sich die Tschechoslowakei dem Ostblock in die Arme geworfen, um einer neuen Katastrophe von München zu entgehen — jenem München von 1938, das das Ende der 1918 gegründeten Moldau-Republik bedeutete —, so stellt, zumindest'in den Augen vieler Tschechen, Helsinki ein neues München dar, das eine Situation schafft, aus der es scheinbar kein Entrinnen mehr gibt; schon deshalb nicht, da die Situation der sogenannten freien Welt sichtlich von Tag zu Tag fragwürdiger wird.

Und dennoch: Der Welt fast ganz verborgen, hat sich seit jenem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes vieles in der einst von Masa-ryk begründeten Republik geändert:

Dazu gehört vor allem das Schwinden jedes panslawistischen Denkens im tschechischen Volk.

Dieses Denken war jahrzehntelang, wenn auch nur in einem Teil des tschechischen Volkes verankert. Die Russen, gleich, unter welchem Zaren sie standen, waren die großen Brüder, die ihre sichtbaren oder unsichtbaren Hände immer über das Tschechenvolk halten würden. Diese panslawistische „Karte“ war schon von Palacky ausgespielt worden, als eine Art Gegenaktion gegen die pangermanistische „Karte“ der Deutschen der Monarchie.

Seither hatte es in weiten Kreisen der Intelligenz Geltung und seit der NS-Besatzung auch in weiten Teilen des Volkes. Der Traum vom „großen Bruder“ ist nun ausgeträumt. In der Intelligenz und im Volk. Und dieser Traum wird sicherlich lange nicht mehr wiederkommen.

Wie tief die Enttäuschung über die sogenannten großen Brüder war, zeigt die Tatsache, daß zum Beispiel eine siegreiche tschechoslowakische Eishockeymannschaft den russischen Verlierern nach dem Spiel 1969 nicht einmal die Hand gab. Oder jahrelang nach dem Ende des Prager Frühlings russische Musik, und sei sie selbst von Tschaikowsky, nicht gespielt wurde und russische Literatur, und wäre es die klassische, nicht gelesen wird. Die Enttäuschung war und ist zu groß und zu schmerzhaft.

Als heuer, 1975, die Tschechoslowakei des dreißigsten Jahrestages ihrer Befreiung gedachte, wurde dies benützt, um Rußland wieder dem Volk als den großen Bruder ins Gedächtnis zu hämmern. Die Propaganda wies darauf hin, daß nur Rußland allein und seine Armee die CSR von der NS-Herr-schaft befreit hätten. Dabei mußte die Propaganda bewußt jenen Mann verschweigen, der vor 30 Jahren der Sieger war — nämlich Stalin. Sie durfte auch in keiner Weise Beneschs gedenken und der tschechoslowakischen. Auslandsarmee; denn dies wäre ja ein Hinweis auf; die Hilfe der westlichen Welt gewesen. Und sie durfte auch nicht mehr den Slogan gebrauchen, daß alle Deutschen schlechte Menschen seien, von denen Rußland die Moldau-Republik befreit-hatte, da es ja seit der Existenz der DDR auch „gute“ Deutsche gibt. 'Aber trotz aller Vehemenz kam diese Propaganda schlecht an. Zu tief ist seit dem August 1968 die Enttäuschung im Unterbewußtsein des Volkes verankert.

Und das zweite, von der Welt kaum wahrgenommene Geschehnis dieser Augusttage — sieben Jahre nach dem Einmarsch — war das Erlöschen der sogenannten tschechoslowakischen Idee. Diese Idee besagte, daß Tschechen und Slowaken eigentlich ein Volk seien. Wer diese Idee erfunden hat, ist bis heute nicht klar. Wahr ist, daß ein Teil der tschechischen Intelligenz an die Existenz dieser Idee in der Zwischenkriegszeit mit Inbrunst glaubte. Und ebenso ein kleiner Teil der slowakischen (hauptsächlich der protestantischen) Intelligenz. Bei letzterer ist dieses Faktum verständlich. Die slowakische Sprache ist eine sehr junge Sprache. In den slowakischen protestantischen Kirchen betete man im 17. und 18. und auch noch im 19. Jahrhundert tschechisch. So wurden die slowakischen Protestanten geradezu zu Tschechen erzogen.

Für viele Tschechen war die tschechoslowakische Idee eine Garantie, im „deutschen Meer“ doch nicht ganz unterzugehen.

In den Augusttagen 1968 hatten sich führende Slowaken keineswegs als Tschechoslowaken, sondern als sehr egoistische Slowaken gezeigt. Im Verlauf der folgenden Ereignisse hatte die Tschechoslowakei sogar eine Entwicklung im Sinn eines k. u. k. Dualismus mitgemacht — mit einem deutlichen Übergewicht der an sich zahlenmäßig geringeren Slowaken. Durch das Verhalten der Slowaken seit 1968 ist der tschechoslowakische Traum zu Ende, und er wird ebensowenig wiederkehren wie der panslawistische Traum. Auch hier war die Enttäuschung zu groß.

Was für eine Bedeutung hat das alles für die Welt? Der Kessel Böhmen war zu allen Zeiten eine ■ Retorte, in der frühzeitig Ideen entstanden, die dann später in anderen Ländern zum Tragen kamen.

Die Abkehr vom panslawistischen Traum, die Abkehr von der slowakischen Idee sind im Grunde nicht nur Absagen an supranationale Ideen, sie sind vor allem eine Absage an die „östliche Welt“, sie sind eine Hinwendung zur Welt der Freiheit. Während sich so manche Völker des Westens der Unfreiheit zuwenden, hat hier ein kleines Volk die endgültige Absage erteilt. So schrecklich für den ersten Augenblick das Ende des Prager Frühlings war, er brachte doch Ideen zum Keimen, die stärker sind als die Ideen dieses abgebrochenen Früh-, lings. '

Böhmen ist wieder vom Keim der Freiheit befallen. Alles Geschehen muß zuerst gedacht sein. Daß dieser Keim zur Freiheit überhaupt g e-dacht wird, ist der große Erfolg für ganz Europa seit jenen Tagen des August 1968. Obwohl noch klein, sollte dieser Keim doch zu vielerlei Hoffnung Anlaß geben. Denn er kann eines Tages auch, auf andere übergreifen.

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