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Undogmatisdie Parteien sind Trumpf

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Der bekannte britische Labourpolitiker Anthony Crosland gibt in seiner jüngsten Publikation „Social Democracy in Europe“ nicht nur einen numerischen Überblick über die derzeitige Situation der europäischen Sozialdemokratie, er schildert auch interessante Trends und Entwicklungen, die für Österreich nicht unwichtig sind. Wenn er die Ansicht vertritt, daß heute „in jedem (demokratischen) westeuropäischen Land eine sozialdemokratische Partei entweder an der Macht ist, an der Regierungsmacht Anteil hat oder zumindest ganz knapp vor der entscheidenden Herausforderung steht“, dann entspricht dies — vordergründig betrachtet — den Tatsachen. Mehr als die Hälfte der Kabinette, nämlich 125 von 231, sind heute in den Händen von Sozialisten.

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Der bekannte britische Labourpolitiker Anthony Crosland gibt in seiner jüngsten Publikation „Social Democracy in Europe“ nicht nur einen numerischen Überblick über die derzeitige Situation der europäischen Sozialdemokratie, er schildert auch interessante Trends und Entwicklungen, die für Österreich nicht unwichtig sind. Wenn er die Ansicht vertritt, daß heute „in jedem (demokratischen) westeuropäischen Land eine sozialdemokratische Partei entweder an der Macht ist, an der Regierungsmacht Anteil hat oder zumindest ganz knapp vor der entscheidenden Herausforderung steht“, dann entspricht dies — vordergründig betrachtet — den Tatsachen. Mehr als die Hälfte der Kabinette, nämlich 125 von 231, sind heute in den Händen von Sozialisten.

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Darüber hinaus muß festgehalten werden, daß in zehn der fünfzehn demokratischen Länder, die für diese Untersuchung herangezogen wurden, bei den letzten Wahlen sozialdemokratische Parteien die Stimmenmehrheit erzielen konnten.

Dennoch zeigt eine Summierung der abgegebenen Stimmen ein anderes Bild (siehe Tabelle), das insbesondere unter Beachtung des Langzeitvergleiches 1935—1955—1975 aufschlußreich wird.

Pikanterweise erklärt sich der konservative „Stimmenüberhang“ von etwa 10 Millionen durch die relative Stärke der Kommunisten in Frankreich und Italien, wo dadurch die Sozialisten regelmäßig auf Platz Nummer 3 verwiesen werden.

Der Umstand, daß dennoch die Sozialisten nicht nur die Mehrheit der Kabinettsmitglieder und Regierungsbeteiligungen aufweisen können, sondern darüber hinaus auch bereits im europäischen Parlament die Mehrheit stellen, erklärt sich aus der mangelhaften Homogenität der „Konservativen“, die, wie dies das Beispiel Norwegen deutlich zeigt, nach wie vor in vielen Ländern lediglich durch mehrere untereinander in Interessenskonflikte verfangene Kleinparteien gespalten sind. Daran konnten auch die mühseligen internationalen Versuche der christdemokratischen Parteien nichts ändern, da diese nur einen Teil der in Frage stehenden Parteien ansprechen.

Dennoch zeigt der Langzeitvergleich relativ stabile Verhältnisse. Die Relation 1935 zu 1975 zeigt leichte Gewihne bei Konservativen und Sozialisten, die insbesondere zu Lasten der „anderen“ Parteien (insbesondere der nationalistischen) gehen. Die Kommunisten weisen zwar einen Stimmenzuwachs auf, dennoch zeigt sich im Vergleich zwischen 1955 und 1975 bereits viel eher eine Stabilisierung als ein ungestümer Vorwärtsmarsch. Die Liberalen konnten (dank den letzten Wahlen in Großbritannien) ihren Stand halten.

Der „Economist“ stellt in diesem Zusammenhang die Frage, wie es nunmehr mit der europäischen Sozialdemokratie weitergehen könnte und versucht deren strategisches Konzept zu analysieren. Während in Italien nach den letzten Wahlen die Sozialisten weniger denn je die Chance haben, ins kommunistische Stimmenreservoir einzudringen, wittern die französischen Genossen Morgenluft. Eine kürzliche Umfrage brachte eine überraschende Wendung in der Volksgunst zutage, die M; so der „France Soir“ — die Sozialisten mit 30 Prozent vor die Kommunisten (20 Prozent) reiht.

Eine weitere Frage ist, ob es den Sozialisten in Europa gelingen wird, religiöse (insbesondere katholische) Barrieren zu überwinden. Obgleich man noch während der fünfziger

Jahre in der Bundesrepublik geglaubt hatte, daß gerade das religiöse Moment einen Erfolg der SPD vereiteln werde, hat die Entwicklung diese These alles andere denn bestätigt. •

In Holland und Belgien dürfte jedoch auch heute noch das katholische Element in der Bevölkerung wahlentseheidende Bedeutung haben. Es ist bezeichnend, daß es gerade eine britische Publikation ist, die feststellt, daß es bei diesem Problem in erster Linie darauf ankomme, wie sehr es den Sozialisten gelinge, sich „respectable“ zu machen. Bezeichnend deswegen, weil die Religion im britischen Parteiensystem (wehn überhaupt) nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt.

Ein anderes Fragezeichen wäre hinter den Zweifel zu setzen, ob der Sozialismus den Ubergang zur Dienstleistungsgesellschaft bewältigen kann. Der Trend zum tertiären Sektor ist ein gesellschaftliches Faktum. Die Tabelle zeigt einen Vergleich der Jahre 1955 und 1975, der die Dimensionen dieses Strukturwandels besonders deutlich illustriert.

Die Studie weist darauf hin, daß die Sozialisten gerade in den Ländern, in denen dieser Prozeß besonders virulent ist, ihren Plafond erreicht zu haben scheinen. So sind zum Beispiel die sozialistischen Parteien in Belgien, Großbritannien, Dänemark, Holland, Norwegen, Schweden und der Schweiz bei den jeweils letzten Wahlgängen unter ihren jeweils besten Ergebnissen geblieben. In Österreich und in der BRD hat die Zahl der Industriearbeiter erst in letzter Zeit abzunehmen begonnen, so daß für diese beiden Länder, in denen die Sozialisten bei den letzten Wahlen ihre bislang besten Ergebnisse erzielen konnten, der entsprechende Prozeß noch abzuwarten ist. (Grund genug für die ÖVP, die Hände hoffnungsvoll in den Schoß zu legen?)

Ein typisch englischer Akzent liegt auf der Frage, ob die Verflechtung zwischen sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften, die sich in der Vergangenheit als automatischer Stimmenbringer erwiesen hat, nicht in Zukunft zu einer Belastung für die Parteien werden könnte, sobald nämlich die Gangart der Gewerkschaften in der Öffentlichkeit auf Ablehnung stößt. Dies ist immerhin die stärkste Gefahr, der die Labour Party derzeit ausgesetzt ist.

Zuletzt stellt der „Economist“ die Frage, ob die sozialistischen Parteien weiterhin in der Lage sein werden, derart faszinierende Parteiführer hervorzubringen wie bisher. In der unmittelbaren Nachkriegszeit seien es die Volksparteien gewesen, die mit den besten Männern an die Wähler herantraten (Adenauer, de Gasperi, de Gaulle, Mac-millan, Raab) während in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren Männer wie Brandt, Kreisky, Palme und Wilson die politische Szene dominierten.

Die Antwort auf die Frage, inwieweit es diesen Männern gelingen könnte, trotz abnehmender Arbeiterzahlen den Höhenflug ihrer Parteien fortzusetzen, wird insbesondere davon abhängen, inwieweit es ihnen gelingt, in die Mittelklasse, also in die Angestelltenschicht, einzudringen. Eine Taktik, die nur dann von Erfolg gekrönt sein kann, je undogmatischer sich die Parteien präsentieren.

Gerade die österreichische und die bundesdeutsche Situation zeigt, daß die Intentionen deutlich in diese Richtung laufen. Die nicht-sozialistischen Parteien stehen diesem Phänomen zwar nicht ahnungslos gegenüber, haben aber noch nicht entsprechend Tritt gefaßt. Man kann gespannt sein, welches Ergebnis der Langzeitvergleich im Jahr 1995 aufzeigen wird.

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