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Unerbittliches Kastensystem

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Die alten Mythen sagen, daß der Urmensch die Menschen aus seinem Mund, den Armen, den Hüften und den Füssen entspringen ließ und mit ihnen die gesamte Sozialordnung. Belege für die deutliche Ausprägung des Kastensystems stammen erst aus dem 3. und 2. Jahrhundert vor Christus, heißt es im Buch des deutschen Kulturwissenschafters Gerhard Schweizer". ■

Jeder Kaste ist eine spezielle Aufgabe zugedacht. An der Spitze stehen die Brahmanen, die Kaste der Gebildeten und Priester. Sie leben in Askese, Reinheit und Weisheit. Danach kommen die Kshatri-yas, die Krieger, die Großkaste der Adeligen. Kraft, Durchhaltevermögen und Findigkeit kennzeichnen die Fähigkeiten dieser Kaste.

Die beiden unteren Guppen sind die Vaishyas, die Bauern und Händler. Danach die Sudhras, die Arbeiter, Diener und andere mit niedrigem sozialen Status, die aber noch ihren Platz innerhalb des Kastensystems haben. Dienen und gehorchen bestimmen den Lebensinhalt dieser beiden Kasten.

Die fünfte Gruppe sind die „Kastenlosen", die keinen Platz im System gefunden haben. Sie gelten als unrein, unberührbar und müssen die niedrigsten Arbeiten verrichten. Heute heißen sie etwas vornehmer „Scheduled casts" („Unterprivilegierte Kasten"). Dazu gehören jene 600.000 indischen Familien, die ihren Unterhalt mit dem Leeren und Transportieren von Latrineninhalten verdienen.

Das Wort „Kaste" erfanden die im 16. Jahrhundert an der Westküste gelandeten Portugiesen. „Ca-sta" bedeutet unvermischt. Wer heute nicht den englischen Begriff „cast" verwendet, benutzt das Sanskritwort „Jati". Es heißt „Geburt" und macht bereits klar, daß kein Hindu von einer Kaste zur anderen wechseln kann. Er ist vom ersten Tag seines Lebens bis zu seinem Tod eingebettet in eine vorgegebene Ordnung. Wie und als was er lebt, ist Ausdruck des „Dhar-ma", des kosmischen Gesetzes.

Das Kastensystem, wie es heute den Alltag der Hindus bestimmt, ist mit seinen mehr als 3.000 Unterkasten nicht nur äußerst vielfältig. Regionale, von Provinz zu Provinz unterschiedliche Besonderheiten an Normen und Tabus machen das System noch undurchschaubarer.

Für den westlichen Besucher ist nicht erkennbar, welcher Kaste ein indischer Gesprächspartner angehört. Ein Inder könnte ihn an seinen Lebensgewohnheiten, seiner Ausdrucksweise, Gestik, seinem Namen „identifizieren".

Die Zugehörigkeit zu einer Kaste ist übrigens nicht an Wohlstand und Bildung gekoppelt. Es finden sich Reiche und Gebildete inmitten der unteren Kasten und umgekehrt. Diese Unterschiede sind für orthodoxe Hindu nicht entscheidend.

Der erste, der sich für die Kastenlosen einsetzte, war Mahatma Gandhi. Seine Anhänger bemühen sich auch heute um ihre soziale Aufwertung.

" Gerhard Schweizer, Abkehr vom Abendland, Hamburg 1986.

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