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Unkoordiniert wird an der Schule gepfuscht: Tech-nokratie statt Pädagogik, Überschwemmung mit Lehrstoff am Schüler vorbei. Zu Schulbeginn Gedanken eines Insiders.

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Unkoordiniert wird an der Schule gepfuscht: Tech-nokratie statt Pädagogik, Überschwemmung mit Lehrstoff am Schüler vorbei. Zu Schulbeginn Gedanken eines Insiders.

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In Australien wurde eine mexikanische Kakteenart eingeführt. Sie fand dort ein günstiges öko-biologisches'System ohne natürliche Feinde. Rasch breiteten sich die Kakteen aus und nahmen überhand.

Die Kaktusfliege mußte nachimportiert werden. Ihr Stich bot der Fruchtbarkeit des Kaktus Einhalt und wies seiner Verbreitung Grenzen...

Leichtsinnige Eingriffe in ein gewachsenes Gleichgewichtsund Selbstregulationssystem stören, ja zerstören ein bislang stabiles Ganzes. Müssen wir in Osterreich so wie in Deutschland eine Schulreformitis beklagen, ein eiliges Huschen von Veränderung zu Veränderung?

Einige Beispiele: • Sexualerziehung, Politische Bildung und Verkehrserziehung sind abgehakt, sind durch Unterrichtsprinzipien verpflichtend geworden. Initiativgruppen können kaum vom Minoritenplatz in Wien abgehalten werden. Umwelterziehung und Friedenserziehung wenigstens sollen dem Stoffkarren Schule aufgeladen werden, vor den die 10.000 Stunden der Pflichtschüler gespannt werden; die „high-tech-pressure-group“ arbeitet bereits an ihrem Schulzupack; Partnerschaft und Haushalt werden mehr und mehr im Schulprofil vermißt.

Es wird Kaktusfliegen brauchen!

• Es gibt österreichische Schulfächer mit und ohne Appendix (heißt nicht Blinddarm!): Geschichte und Sozialkunde, Geographie und Wirtschaftskunde, Physik und Chemie, Biologie und Umweltkunde; technische und textile Werkerziehung stehen uns bevor. Von Bildnerischer Erziehung und audiovisueller Gestaltung wird fantasiert. Wie reduziert machen sie sich aus: Deutsch, Englisch, Leibeserziehung, Religion gar.

Mathematik wird mit Informatik vermählt, Musikerziehung mit Bewegungserziehung legiert werden. Wird Informatik zum Trojanischen Pferd der Schule?

Es wird Kaktusfliegen brauchen!

• Erst kam der Sprechtag, dann der Schulgemeinschaftsaus-schuß, nun wird das Klassen- und Schulforum eröffnet. Wären nicht noch die Elternvereine zu verordnen?

Es wird Kaktusfliegen brauchen!

• Die Bürgerschule wurde durch Klassenzüge zur Hauptschule okuliert. Die Zweige wuchsen auseinander. Nun, seit 1985 müssen an einem Ast verschiedene Früchte wachsen: Leistungsgruppen fassen sie sortiert (Sorte!) zusammen. Die Klassenvorstandsstunde wird verlangt.

Es wird Kaktusfliegen brauchen!

• Die Grundschule, die Volksschule hat noch immer Repetenten. Schafft die Ziffernnote ab, das Sitzenbleiberelend wird verschwinden!

Es wird Kaktusfliegen brauchen!

• Die gymnasiale Oberstufe, die höhere Schule, soll reformiert werden. Die Legierungsgegenstände bleiben, aber sie werden zu Wahlpflichtfächern gruppiert: von der allgemeinbildenden zur speziell bildenden höheren Schule, t

Dabei läßt die Schweiz die Abiturienten der deutschen reformierten Oberstufen nur zum Studium zu, wenn sie neben der Muttersprache mindestens eine moderne Fremdsprache, Mathematik und Physik sowie Chemie und Biologie in den letzten beiden Jahren vor dem Abitur ununterbrochen als Unterrichts- und Prüfungsfächer besucht hatten.

Es wird Kaktusfliegen brauchen!

Das Puzzle der Schulorganisation, des inneren Schullebens auch paßt nicht mehr. Es wird weitergeschnipselt werden: Wer die Schule hat, hat die Zukunft. Verschiedene Kräfte ziehen, zerren an der geistigen Hand der Kinder. Die Resultierende fehlt. Dies erweisen die Schulprogramme der politischen Parteien ebenso wie die Ergebnisse der Meinungsbefragungen.

Bildungspolitik verfolgte eindimensionale Reformstrategien (etwa Gleichheit und Gerechtigkeit). Das Schulsystem wurde wie ein mechanisches Getriebe behandelt: Auswirkungen auf den Menschen zu wenig beachtet. Technokratie statt Pädagogik. Die Parole „Mut zur Erziehung“ hat in der Bundesrepublik eine antipädagogische Bewegung provoziert: „Die Erziehung ist abzuschaffen!“ An ihre Stelle solle Freundschaft mit Kindern treten.

Es ist ohne Zweifel das Ziel aller Erziehung, die Erziehungsbedürftigkeit aufzuheben, aber sich selbst? Was, wenn Erzieher (Mutter, Vater, Lehrerin, Meister) dem Gärtner vergleichbar werden, der aus der Gartenlaube dem natürlichen Geschehen zuschaut?

Erziehen heißt Eingreifen! Das, Kind, der Jugendliche brauchen das handelnde Ja und Nein der Eltern und Lehrer. Das liebende Ja fördert das Selbstvertrauen, verhilft dem Selbst zu seiner Einmaligkeit. Das verantwortete Nein begrenzt, bewahrt vor Irrweg und Schaden. Die Grenze ist leicht ausgemacht. Man mißhandelt nicht, wen man liebt. Viele Eltern, Lehrer lassen sie gewähren, räumen ihnen selbstbezogen, zeitgeizig, ängstlich auch ein, den Kindern und Jugendlichen, was diese wollen. Sie bleiben den Kindern und Jugendlichen unumkehrbar schuldig, was sie freigemacht hätte: Ihre erzieherische Liebe. Das größte Energiedefizit heißt Liebe.

Die anonyme Massenschule bleibt kalt, namenlos, ängstigend. So gerät das Büd von Vater und Mutter, die Bedeutung der Familie ins Wanken, und Zugehörigkeitserlebnis, Voraussetzung für Heimatbezug, schwindet. Heimat ist der Ort, wo ich mich geborgen fühle. Heimat ist das Geheimnis nationaler Identität, nicht jedoch neuen Patriotismus. Der Autor ist Direktor der Pädagogischen Akademie der Diözese Linz.

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