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Unerwartete Begegnung

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Die Erzählung der in Krems wohnhaften Autorin wurde für den Wettbewerb christlicher Literatur der FURCHE und des Verlages Styria verfaßt.

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Die Erzählung der in Krems wohnhaften Autorin wurde für den Wettbewerb christlicher Literatur der FURCHE und des Verlages Styria verfaßt.

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Er war ganz so wie immer erwacht, ein abruptes Auftauchen aus jenem wurzelwarmen Dunkel. Wie immer blieb er noch eine Weile liegen, auf seinen Atem horchend, während Traumfetzen in ihm hochstiegen und sogleich zerflossen. Taubengurren von draußen mischte sich mit klappernden Schritten von nebenan ■ rechts. Jenseits der Dächer lag

Verkehrslärm, abends dumpf rauschend und jetzt hysterisch und zerhackt.

Sonst pflegte er sich ruckartig aufzusetzen und aus dieser Bewegung Kraft zu holen für die vier, fünf Schritte zum Radio. Gleich darauf würde die hektische Fröhlichkeit des Radiosprechers die Benommenheit zerstoßen. Mit dem Wasserbehälter der Kaffeemaschine zum Wasserhahn im Badezimmer und wieder zurück, während aus der Dusche bereits dampfend das Wasser strömte, den Schlafanzug innen auf die Türklinke der Badezimmertür — all diese täglich wiederholten Handgriffe, an deren Routine er sich anklammerte, bis diese erste Stunde überwunden war.

Das Unbehagen, das er zuerst nur leise in sich geahnt hatte, breitete sich aus, bis es ganz da war und ihn erfüllte, zu stark, um von der Radiostimme überflutet zu werden. Er richtete sich im Bett halb auf und verharrte so, auf den Ellbogen gestützt, bis dieser schmerzte.

Es konnte nicht die dunkle Gewißheit sein, daß dieser Tag etwas Unangenehmes bringen würde, die ihn verstörte; auch kein Ereignis vom Vortag, das sich in seiner Erinnerung festgehakt hatte, war schuld.

Nicht gewohnt, über sich und seinen Sinn nachzudenken, kam nun plötzlich die übermächtige Erkenntnis über ihn, daß er alle diese Tage und Jahre gewartet hatte, vom Augenblick des Erwachens bis zum Verlöschen des Lichts am späten Abend, immer nur gewartet, mit Hoffnung, Sehnsucht und verhaltenem Glück, auf etwas, das in sein Leben kommen mußte. Er hatte einen Platz in seinem Leben freigehalten und ihn zu seinem Mittelpunkt gemacht, um den er kreiste, bis das Wunderbare kommen würde, nicht wie ein Blitz, sondern wie ein sanfter Zauber, allmählich und doch deutlich für ihn bestimmt.

Aber plötzlich sprang ihn die Gewißheit hämisch an, daß sich auch heute nichts ändern würde, und er sah hinter diesem Tag all die weiteren Tage seines Lebens, glatt und kühl.

Die ungewohnte Stille schreckte ihn schließlich hoch, und er begann, seine Morgenverrichtungen aufzunehmen, nicht m der gewohnten Reihenfolge, die er immer wieder verbessert hatte, um Bewegungen und Schritte einzusparen, sondern hektisch, bis das Zimmer ihn unordentlich und feindselig umschloß.

Der sanfte Mensch stand am offenen Gangfenster, den Rücken ihm zugewandt, und zeichnete mit dem Finger auf dem morgenson-nenwarmen Holz des Fensterbrettes. Der Mann bemerkte ihn kaum, als er die drei Stockwerke hinunter zu Fuß nahm, weil seine innere Rastlosigkeit es nicht zuließ, auf den Lift zu warten. Im Laufschritt hetzte er vor sich her durch geschäftige Straßen. Der sanfte Mensch folgte ihm ruhig und die Sonne tanzte auf seinem Gesicht und fing sich in seinen Augen.

Der Mann erreichte das Büro zu spät und das graue Gitterfensterhaus schluckte ihn und er belud seinen Tag mit Hektik. Aber sein Herz konnte er nicht mehr zum Schweigen bringen. Während einer Pause trat er ans Fenster, und am Rande des Parks, der das Bürogebäude umgab, sah er die Erscheinung. Er war erstaunt über die zarte, aufrechte Silhouette. Der Gott seiner Kindheit war anders gewesen, das schwarze Holzr kreuz an der Wand, plärrende Kinderstimmen im Religionsunterricht - „Gestern war Sonntag, wer war nicht in der Kirche?" — und über allem das Altmännergesicht mit zweigeteiltem Bart: Er, der alles sah und bestrafte. Der Mann hatte ihn leichten Herzens zusammen mit all den anderen Ängsten seiner Kindheit zurückgelassen. Jetzt schloß er das Fenster und spürte erstaunt ein schwaches, sehnsüchtiges Glück, das ihn während des restlichen Nachmittages nicht mehr verließ. Die Klingel schrillte, und er packte eilig seine Sachen zusammen und streifte sich die Jacke über, während er den Ausgang erreichte.

Der sanfte Mensch stand im Licht der ersten Straßenlampen. Es hatte geregnet, und das Licht spiegelte sich in den Pfützen und in seinen Augen. Der Mann ging, auf ihn zu. „A\\ die Jahre", sagt er. „Und immer wieder habe ich sie verschüttet und übertönt, mit Stimmengewirr und heftigen Wünschen. Und doch war sie immer in meinem Herzen, deine Musik."

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