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Unfrei — und geteilt

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In der letzten Ausgabe der FURCHE wurde dargestellt, warum Irland, dessen Unteilbarkeit bis zum ersten Weltkrieg nie ernstlich angefochten worden war, schließlich zerschnitten wurde: Premierminister Lloyd George hatte, um den Zusammenhalt des britischen Kriegskabinetts nicht zu gefährden, im ersten Weltkrieg Irlands Nationalistenführer John Redmond ein ungeteiltes Irland, dem Sprecher der nordirischen Protestanten, Sir Edward Carson, aber ein vom Rest der Insel unabhängiges Nordirland versprochen.

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In der letzten Ausgabe der FURCHE wurde dargestellt, warum Irland, dessen Unteilbarkeit bis zum ersten Weltkrieg nie ernstlich angefochten worden war, schließlich zerschnitten wurde: Premierminister Lloyd George hatte, um den Zusammenhalt des britischen Kriegskabinetts nicht zu gefährden, im ersten Weltkrieg Irlands Nationalistenführer John Redmond ein ungeteiltes Irland, dem Sprecher der nordirischen Protestanten, Sir Edward Carson, aber ein vom Rest der Insel unabhängiges Nordirland versprochen.

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Daß die „Irish Republican Army“, die IRA, die Irland die Unabhängigkeit von England erkämpfen sollte, noch immer existiert und jede Entwicklung zu einem Ausgleich zwischen Nordirlands Katholiken und Protestanten blockieren kann, ist darauf zurückzuführen, daß der Freistaat Irland kurz nach seiner Gründung in einen blutigen Bürgerkrieg gestürzt wurde, der die Nation zutiefst spaltete.

Es ging darin um die Frage, ob die am 6. Dezember 1921 in London unterschriebenen Bedingungen, unter denen der Freistaat ins Leben gerufen werden sollte, angenommen werden konnten. Im Vordergrund stand aber nicht da Ja oder Nein zur Teilung, sondern Irlands Verbleiben im Commonwealth und das Untertanenverhältnis der Iren gegenüber der britischen Krone.

In der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember kam es zum berühmten Ultimatum von Lloyd George, zur Drohung mit dem totalen Krieg, zum Umfaller zuerst des Delegationsführers Griffith und dann der übrigen Iren. Es war ein teurer Sieg für Britannien. Irland verzichtete zwar vorerst auf jenes in heutiger Sicht unbedeutende Mehr an Unabhängigkeit, auf das De Valera die Unterhändler vor ihrer Abreise eingeschworen hatte, trat aber 1948 trotzdem endgültig aus dem Commonwealth aus. Der Preis dafür war eine Polarisierung der Nation, die ideale Bedingungen für das Überleben militanter Organisationen schuf, vor allem der IRA, die heute jede Hoffnung auf Verständigung illusorisch zu machen droht.

Aber das Kapital an britischem Verständnis für Irlands Sehnsucht nach Unabhängigkeit, das sich vor dem ersten Weltkrieg angesammelt hatte, war spätestens mit dem Oster-aufstand 1916 und mit dem Widerstand der Iren gegen die Zwangsaushebungen für die Army dahin, der Erfolg dieses Widerstandes wiederum stärkte den Iren den Rücken. Damit verschwand „home rule“, Selbstverwaltung unter britischen Fittichen, von der Liste der möglichen Lösungen — was die Iren jahrhundertelang ersehnt hatten, war ihnen nun zu wenig. Expremier Asquith, den Lloyd George im Verein mit dem Zeitungskönig Beaverbrook 1916 gestürzt hatte, verglich die neue, härtere Irlandpolitik mit zwei Parallelen, die sich — statt im Unendlichen — niemals treffen: „In diesem Fall sind die beiden Parallelen die Zwangsaushebung und Home rule. Einstweilen enden sie im Nichts1.“

Kurz nach Kriegsende werden im gesamten United Kingdom die Unterhausabgeordneten neu gewählt. In Irland bedeutet dieser 24. Dezember 1918 das Ende der gemäßigten, bürgerlichen Parlamentspartei, die von der radikalen Sinn-Fein-Bewegung total zerrieben wird. Ihr Führer, Dil-lon, verliert seinen Wahlkreis an den aus dem Gefängnis entsprungenen Eamon De Valera. Von 105 Sitzen gehen 73 an Sinn Fein, 26 an die Unio-nisten (sprich: Protestanten in Ulster), sechs (davon fünf in Ulster) an unabhängige Nationalisten. Die Sinn-Feiner fassen dies als Plebiszit für ein unabhängiges Irland auf, keiner von ihnen nimmt seinen Sitz in Westminster ein. Sie gründen, soweit sie auf freiem Fuß sind (denn viele Kandidaten saßen im Gefängnis) im Dubliner Rathaus Dail Eireann, das Parlament einer freien Republik, rufen De Valera zum Präsidenten aus, bauen eine Gegenverwaltung und eine Gegengerichtsbarkeit auf, verbessern die Ausbildung der IRA und erlauben sich Großbritannien gegenüber einen sehr bösen Streich mit der Nominierung zweier Delegierter für die Pariser Friedenskonferenz, wo sie Irlands internationale Anerkennung als Republik durchsetzen sollen. Es gelingt Lloyd George nur mit Mühe, US-Präsident Wilson vom innenpolitischen Charakter des Konfliiktes mit Irland zu überzeugen und die Iren von Paris fernzuhalten.

Während alle Welt vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ spricht, setzt sich Lloyd George über das Selbstbestimmungsrecht der Iren hinweg. Der von den Liberalen zu den Labours übergewechselte Unterhausabgeordnete Josiah C. Wedgwood drückt aus, was viele denken: „Ich bin völlig sicher, daß der einzige Weg, gute Beziehungen zwischen Iren und Engländern herzustellen, darin besteht, ihnen zu geben, was sie wollen, und ihnen Gelegenheit zu bieten, selbst zu erkennen, wie unpraktisch es ist. Wir wissen genau, daß der gesamte Süden, Osten und Westen Irlands vom Export in dieses Land abhängt. Gebt den Iren, was sie fordern, und laßt sie selbst daraufkommen, daß wir nicht ihre Feinde sind2!“

Lloyd George zieht es vor, den Iren durch zwei neue Gesetze beizukommen. Die „Local Government Bill“ soll neue Wahltriumphe von Sinn Fein durch willkürliche Ziehung der Wahlkreisgrenzen verhindern — damit beginnt das bis in die jüngste Zeit in Nordirland geübte „Gerry-mandering“, so genannt nach einem Wahlkreis in Massachusetts, der aus wahltaktischen Gründen die Umrisse eines Salamanders (gerrymander) erhielt. Das zweite Gesetz, das Teilungsgesetz, schuf zwei Irland und gleichzeitig ein „Council of Ireland“, das sie irgendwann wieder vereinigen sollte. Der Krone blieben alle Schlüsselstellungen von Wichtigkeit, vom Armeeoberkommando bis zum Außenhandel, erhalten, dafür sollte Irland einen Teil der britischen Staatsschuld übernehmen und schon in den ersten beiden Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes 18 Millionen Pfund zur Abstattung der Kriegsschuld beitragen.

Die Sinn-Feiner ignorieren diese Gesetze. Sie nennen sich jetzt „Unabhängigkeitspartei“, schreiben Neuwahlen aus und gewinnen 124 der 128 Sitze im Dail. Während König George V. in Belfast Nordirlands Parlament „Stormont“ eröffnet, herrscht im Süden längst Krieg. Die Armee ist entschlossen, „gesetzmäßige Zustände“ herzustellen. Die IRA ermordet britische Agenten und Sympathisanten, die Sondertruppe der „Black and Tans“ revanchiert sich damit, daß sie ganze'Straßenzüge in südirischen Städten niederbrennt. Beide Seiten foltern Gefangene, erschießen oder hängen „Schuldige“ ohne Urteil und ohne Verhör — die britischen Soldaten ebenso wie die IRA.

Der drohende wrtschaftliche Ruin macht die Iren, die Gefahr für ihr internationales Prestige (aus dem ganzen Empire langen Proteste nichtkatholischer hoher Geistlicher in London ein) die Briten kompromißbereit. Nach ersten Sondierungen — Lloyd George apostrophiert De Valera bereits als „Präsident der Republik“

— treffen unter der Führung von Arthur Griffith die irischen Unterhändler am 11. Oktober in London ein.

De Valera war ein Leben lang Realist. Er hat Griffith nicht mit der unmöglichen Aufgabe belastet, Irland eine Teilung, die von den Südiren immer nur als vorübergehend verstanden wurde (siehe FURCHE Nr. 4/ 1973) zu ersparen. Auch der berüchtigte Artikel XII des Statuts, der von den Iren als Garantie für die Wiedervereinigung, von Briten und Nordiren jedoch konträr ausgelegt wurde, hat die Südiren später nicht entzweit. Selbst mit einer lok-keren Mitgliedschaft im Commonwealth hatte sich De Valera abgefunden. Doch er war unter keinen Umständen bereit, ein Untertanenverhältnis der Iren gegenüber der britischen Krone zu akzeptieren:

„Griffith wiederholte, was er zu mir gesagt hatte *— daß er nicht zur Krone übergehen werde. Es war ihm erklärt worden, daß die Annahme eines Untertanenverhältnisses die sichere Spaltung bedeutete — die größte aller Gefahren. Es wurde auch erörtert, ob ich selbst nach London gehen sollte, doch wurde dagegen eingewendet, die Briten könnten daraus den Schluß ziehen, ich mache mir Sorgen wegen einer möglichen Niederlage. Folglich hätten sie mir keine weiteren Zugeständnisse gemacht, sondern ihre Haltung versteift3.“

Lloyd George seinerseits legte auf dieses Untertanenverhältnis größten Wert und verstand es geschickt, die irischen Delegierten gegeneinander auszuspielen. Was England den Iren vorschlug, stellte in englischer Sicht ein ungeheures Entgegenkommen dar: Erhebung einer völlig rechtlosen Kolonie in den Status eines Dominions, der damals allerdings noch nicht auf seinen heutigen, unverbindlichen Repräsentativcharakter zusammengeschrumpft war. Die britischen Verhandlungspartner empfanden die Halsstarrigkeit der Iren als Anmaßung, sie waren weder fähig noch willens, deren Motive zu verstehen. Für die Iren bedeutete das Dominionstatut aber Aufgabe alles dessen, wofür sie ein Leben lang gekämpft und geblutet hatten, wofür viele Freunde im Kampf gefallen oder unter den Kugeln der Hinrich-tungskommandos zusammengebrochen waren: die Republik.

In den späten Abendstunden des 5. Dezember erklärte der Premier unvermittelt und hart, es werde entweder noch am selben Tag unterzeichnet oder die Konferenz abgebrochen, England werde dann mit allen Mitteln und ohne Gnade militärisch gegen Irland vorgehen. Die Iren zogen sich zurück — keiner der Briten, so berichtete Churchill, erwartete, daß sie unterzeichnen würden4.

Nach stundenlangem Hin und Her entschlossen sich die Iren zur Unterschrift. Den Ausschlag gab Griffith, dem Lloyd George vorgehalten hatte, er habe früher einmal zugesagt, was nun verlangt werde. Noch bis drei Uhr früh wurde um einige Details des Textes gerungen, am Ende reichten Iren und Engländer einander die Hand — was sie während all der Wochen peinlich vermieden hatten. Den Männern, die doch, nüchtern betrachtet, eine neunzigprozentige Freiheit brachten, schlug wegen der fehlenden zehn Prozent in Dublin eine feindselige Stimmung entgegen. Im folgenden Bürgerkrieg stand De Valera für die unwissenden, aber fana-tisierten Bauern und Industriearbeiter gegen Griffith, den Bürger, der wohl letzten Endes deshalb unterschrieben hat, weil er die Wichtigkeit der Formel, nach der künftig Iren von irischen Gerichten als Zeugen verpflichtet, irische Regierungsmitglieder auf ihre Pflichten vereidigt werden sollten, nicht so wichtig nahm.

Denn Griffith repräsentierte, im' Gegensatz zu De Valera, Irlands aufgeklärte, gebildete Bürger, jene, die etwas zu verlieren hatten: „Den Bürgerkrieg“, schreibt der irische Politologieprofessor Chubb, „hatten sie unpraktisch und widerwärtig gefunden, sie freuten sich über sein Ende, beteten um Ordnung und verstanden nicht, wie jemand wie De Valera so pedantisch sein konnte, seine Wiederaufnahme wegen Wörtern wie ,Eid' oder .Republik' gutzuheißen. Am anderen Ende des sozialen Spektrums stand die politisch untätige Mehrheit, zu der mittlerweile, außer den Bauern, auch die städtischen Arbeiter zählten, deren Slums zu den schrecklichsten von Europa gehörten. Seit 1918 hatten sie treu für Sinn Fein gestimmt und instinktiv mit der Irish Republican Army sympathisiert. Nun standen sie einer militärischen und später einer langwierigen politischen Auseinandersetzung gegenüber, in der sie der eine Teil ihrer früheren Führer aufforderte, ,den Vertrag', der andere, ,die Republik' zu verteidigen5.“

Am 11. Juli 1921 hatte der Waffenstillstand zwischen Iren und Engländern begonnen. 20 Minuten vor Mitternacht fuhr eine Abteilung „Black and Tans“ sorglos durch das Städtchen Castleisland. Am Ortsausgang fielen die Schüsse, die drei Soldaten töteten. Eine Viertelstunde später drehten die IRA-Männer, die geschossen hatten, ergriffen ihre Gewehrläufe nach unten und nahmen die Hüte ab: Frieden.

Am 7. Dezember hätten sie in einem freien Irland endgültig nach Hause gehen können. Aber da Lloyd George in einer negativen Sternstunde der Geschichte den Iren das vorenthalten hatte, was sie unter Freiheit verstanden, begann der Krieg der kompromißlosen Iren gegen die kompromißbereiten Iren. Und ein Fanatismus, der im Aufbau eines freien Irland hätte suiblimiert werden können, wurde nun gegeneinander losgelassen.

Als Dail Eireann entgegen De Va-leras Beschwörungen das in London unterzeichnete Dominion-Statut ratifizierte, trat der Präsident sofort zurück, um sich an die Spitze der Aufständischen zu setzen. Damit war der Frieden vertan, die IRA gerettet. Darüber in einer der nächsten Ausgaben der FURCHE.

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