7024022-1989_04_09.jpg
Digital In Arbeit

Unfreiheit und Wohlstand gefährden den Glauben

19451960198020002020

Das Konzil war nicht an allenn schuld. Der Rückgang der Religiosität in Europa seit etwa 1965 traf andere Kirchen genauso wie die katholische. Welche Stärke und welche Merkmale hat christlicher Glaube heute in Ost und West?

19451960198020002020

Das Konzil war nicht an allenn schuld. Der Rückgang der Religiosität in Europa seit etwa 1965 traf andere Kirchen genauso wie die katholische. Welche Stärke und welche Merkmale hat christlicher Glaube heute in Ost und West?

Werbung
Werbung
Werbung

FbRCHE: Herr Erzbischof. worauf ist die Religion im Osten Europas die Antwort, worauf im Westen?

ERZBISCHOF ALOIS SU-STAR: Versteht man die Religion im Sinn des christlichen Glaubens, wie er von den Kirchen verkündet und von den Gläubigen gelebt wird, wird man wohl von keinem wesentlichen Unterschied sprechen können. Sowohl im Osten wie im Westen will die Religion auf wesentliche Lebensfragen Antwort geben, auf die Frage Woher und Wohin des Menschen, auf die Frage nach dem Wesen des Menschen und nach dem Sinn des menschlichen Lebens.

Wohl steht die Religion im Osten in einer stärkeren und unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Materialismus und Atheismus kommunistischer Prägung, der das Weltanschauungsmonopol beansprucht und mit der politischen Ordnung durchzusetzen versucht, während im Westen ein größerer weltanschaulicher Pluralismus festzustellen ist. Doch ist sowohl im Westen wie auch im Osten der Säkularismus so charakteristisch, daß diese Unterschiede wieder etwas zurücktreten.

Wenn die Frage nach der Rolle und der Bedeutung der Religion im Leben des Menschen gestellt wird, könnte man sagen, daß Menschen im Osten in der Religion stärker einen Halt für das eigene Leben suchen, weil sie von der marxistischen und kommunistischen Ideologie enttäuscht sind, während im Westen verschiedene philosophische, ideologische und wissenschaftliche Surrogate diese Rolle übernehmen.

FURCHE: Gibt es deutliche Unterschiede in Gläubigkeit und Glaubenspraxis?

SUSTAR: Man müßte sich zuerst einig werden, welche Kriterien für die Beurteilung solcher Unterschiede maßgebend wären, quantitative oder qualitative, ethische oder liturgische, individuelle oder gesellschaftliche, private oder öffentliche und anderes mehr. Im allgemeinen dürfte man sagen, daß die Gläubigkeit im Osten tiefer und lebendiger und die Glaubenspraxis verbreiteter und stärker ist als im Westen, vor allem, wenn man Polen, DDR und gewisse Gegenden in Jugoslawien vor Augen hat.

Sicher ist der Sakramentenempfang, der Besuch der Gottesdienste und die Volksfrömmigkeit in diesen Ländern, vermutlich auch in Ungarn und in der Tschechoslowakei, soweit dies möglich ist, stärker als im Westen. Glaube, Gläubigkeit und Formen der Glaubenspraxis werden weniger problematisiert und durch theologische und ideologische Diskussionen in Frage gestellt als in manchen europäischen westlichen Ländern.

Vor allem aber ist im Osten ein stärkeres Kirchenbewußtsein, eine lebendigere Verbindung mit der Universalkirche und mit Papst und kirchlicher Autorität festzustellen. Gründe dafür sind wohl vor allem in der politischen Lage der Kirche in diesen Ländern zu suchen, aber auch in der langjährigen theologischen, pa-storalen und geistigen Isolation der Ortskirchen.

FURCHE: Was hemmt Kirche und Glauben mehr - Unfreiheit oder Wohlstand?

SUSTAR: Nimmt man die äußere Organisation der Kirche, ihre Verkündigung, ihr Wirken unter den Menschen, ihre Tätigkeit auf dem katechetischen, liturgischen und karitativen Gebiet, in Erziehung und Schule, in der öffentlichen Meinung und in ihrem Einfluß auf das gesellschaftliche Leben, dann hemmt die Unfreiheit ohne Zweifel mehr die Kirche und die Gläubigkeit als der Wohlstand. Geht es aber um die innere Lebenskraft der Kirche, um die

„Opposition zum Regime muß sich eher anderer Mittel bedienen“

Treue zum Evangelium, um ein authentisches christliches Zeugnis und um die persönliche Verbundenheit mit Gott in der Nachfolge Christi, wird wohl der Wohlstand und die materialistische Lebensgestaltung ein größeres Hindernis bedeuten.

Am schlimmsten ist es wohl dort, wo beides zusammentrifft, sowohl Unfreiheit durch gesetzliche Vorschriften, Einschränkungen und Verbote als auch ein wenigstens relativer Wohlstand, der heute auch in einigen östlichen Ländern anzutreffen ist. Dabei ist zu beachten, daß die Unfreiheit der Kirche und der Gläubigen nicht nur auf gesetzliche Vorschriften, sondern auch auf die öffentliche Meinung beziehungsweise den Ausschluß der Kirche aus der Öffentlichkeit zurückzuführen ist.

FURCHE: Unterstützen nicht viele im Osten die Kirche eher aus

Opposition zum Regime oder aus nationaler Tradition statt aus besonderer Glaubensüberzeugung?

SUSTAR: Gewiß gibt es so etwas an vielen Orten und bei vielen Gläubigen. Doch ist nach meiner Ansicht der Prozentsatz nicht zu hoch zu veranschlagen. Zunächst eüimal steht auch bei solchen Gläubigen, die scheinbar aus Opposition zum Regime am Glauben festhalten, dahinter doch eine tiefe persönliche religiöse Uberzeugung. Das Regime wurde ihnen aufgezwungen. Eine Opposition aus Glaubensüberzeugung allein wäre wenig wirksam, zumal die Religion in den meisten osteuropäischen Staaten als private Angelegenheit toleriert wird. Wer die Opposition zum Regime beweisen will, muß sich eher anderer Mittel bedienen.

Was die nationale Tradition betrifft, ist sie bei manchen Völkern, wie zum Beispiel bei Polen, Slowenen oder Kroaten, sehr stark und lebendig. Doch trifft dies auch für manche Länder in Westeuropa zu, wie zum Beispiel Spanien, Portugal, Italien und Irland, wenigstens bis in die jüngste Gegenwart. Es trifft aber zu, daß die nationale Tradition in manchen östlichen Ländern eine größere

Rolle spielt, sowohl wegen der Volksfrömmigkeit wie auch wegen der stärkeren Verbindung der Kirche mit der Erhaltung und Stärkung der nationalen Identität und des nationalen Bewußtseins wie auch der stärkeren Verbindung des christlichen Glaubens mit der nationalen Kultur, Sprache und Selbständigkeit in der Geschichte.

FURCHE: Welche Rolle spielen religiöse Anschauungen und Wer-

„An vielen Orten ist ein Starkes Suchen nach Werten festzustellen“

te derzeit im gesellschaftlichen Leben?

SUSffAR: Man darf wohl sagen, daß sie eine immer größere Rolle spielen, einerseits wegen der Enttäuschung am Sozialismus, Kommunismus, Materialismus und Konsumismus, vor allem unter der Jugend, anderseits wegen der Erneuerung und der Annäherung an das heutige Lebensempfinden in den Kirchen imd unter den

Christen, wiederum vor allem unter der Jugend. An vielen Orten und in vielen Gruppen und bei vielen Einzelmenschen is! ein starkes Suchen nach neuen Orientierungen und nach geistigen und ethischen \yerten festzustellen. Die Unzufriedenheit mit den innerweltlichen Angeboten, Lebens-

„Wir müssen mit den schlimmen Folgen der Unterdrückung rechnen“

entwürfen und Sinndeutungen führt zu einem größeren Verlangen nach Transzendenz und zur Bereitschaft, sich für eine neue Lebensweise zu entscheiden und zu engagieren.

Man darf diese Bewegungen nicht zu rasch in das kirchliche Leben integrieren oder sie als Erneuerung der Kirche deuten. Vieles ist noch vage und unklar, eine Art Wetterleuchten am Nachthimmel eines Europa, das sich immer stärker des Ungenügens der rein materiellen Werte und des technischen Fortschrittes bewußt wird, im Osten vielleicht noch stärker als im Westen.

FURCHE: Welche Entwicklung ist für die Zukunft zu erwarten?

SUSTAR: Bei den großen Änderungen, die wir in den letzten Monaten in verschiedenen Oststaaten erlebt haben, ist dies sehr schwer vorauszusagen. Nach meiner Ansicht ist wohl noch immer mit einem wachsenden Druck auf die Kirche und die Christen zu rechnen. Vor allem aber müssen wir in nächster Zeit mit den schlimmen Folgen der Unterdrückung der Kirche in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten rechnen. Diese sind religiöse Unwissenheit, Angst, Zerfall der Tradition, Lebensunsicherheit, Werteverlust und sittliche Un-empfindsamkeit.

Die Säkularisierung des privaten und öffentlichen Lebens wird weiter fortschreiten, das Christentum wird noch stärker aus dem gesellschaftlichen Leben verdrängt. Anderseits ist aber mit einem noch größeren und intensiveren Suchen und Fragen zu rechnen. Dabei ist der persönliche Kontakt gläubiger Christen mit anderen Menschen auf menschlicher, sozialer, kultureller und religiöser Ebene von großer Bedeutung, wahrscheinlich noch viel mehr als institutionelle und organisierte Begegnungen.

Die Fragen an den Erzbischof von Ljubljana (Laibach) richtete Heiner Boberski.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung