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Ungarischer Alltag 1979: Abkehr vom „Nachholreiz“

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Unter den Mitgliedern des Warschauer Paktes bildet Ungarn eine auffallende Ausnahme. Es leidet zwar auch unter den typischen Schwächen der sogenannten Staatshandelsländer - aber trotz „sozialistischer“ Planwirtschaft in einem geringeren Ausmaß als die anderen. Tatsache ist: Im Gegensatz zu den Verhältnissen in so manchen anderen Ländern äußern die Ungarn auch in politischen Dingen ihre Meinung offen und laut auf der Straße. Freilich tun sie es nur dann, wenn sie Lust dazu haben. Und zur Zeit ist es so. Die jüngsten Preiserhöhungen erregen viel Unzufriedenheit. Kein Wunder, da Fleisch um 30, Brot um 20, Strom um 50, Schuhe um 40 und Personenwagen um 20 Prozent teurer geworden sind.

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Unter den Mitgliedern des Warschauer Paktes bildet Ungarn eine auffallende Ausnahme. Es leidet zwar auch unter den typischen Schwächen der sogenannten Staatshandelsländer - aber trotz „sozialistischer“ Planwirtschaft in einem geringeren Ausmaß als die anderen. Tatsache ist: Im Gegensatz zu den Verhältnissen in so manchen anderen Ländern äußern die Ungarn auch in politischen Dingen ihre Meinung offen und laut auf der Straße. Freilich tun sie es nur dann, wenn sie Lust dazu haben. Und zur Zeit ist es so. Die jüngsten Preiserhöhungen erregen viel Unzufriedenheit. Kein Wunder, da Fleisch um 30, Brot um 20, Strom um 50, Schuhe um 40 und Personenwagen um 20 Prozent teurer geworden sind.

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Bemerkenswert ist, daß die Regierung, wie häufig in letzter Zeit, auch diesmal der Bevölkerung einfach die Wahrheit sagte: Mängel im wirtschaftlichen Bereich und Mißerfolge in den Auslandsbeziehungen hätten eine schwierige Situation geschaffen, aus der nur Sparsamkeit und intensivere Arbeit herausführen könnten.

Wie sieht der ungarische Alltag am Ende der siebziger Jahre aus? Der Alltag jenes mitteleuropäischen Landes, das man im Westen als das „liberalste Land im Ostblock“ bezeichnet?

Der Aufstieg zu mehr Wohlstand für Millionen, besonders in den letzten 30 Jahren, fand in einem Land statt, das stets den Westen vor Augen hatte. Bereits wenige Jahre nach der nationalen Tragödie von 1956 begann man im Rahmen dem Vorbild des Westens nachzustreben - genauer gesagt, jenes fehlerfreien Bildes, das man sich von den westlichen Lebensverhältnissen machte.

Jene Haushalte, denen solches gelang - wozu gute Berufspositionen und ein hohes Einkommen nötig waren dienten wieder als Modell der Nachahmungen in weiteren Kreisen. Ungarn hat ja eine weit zurückreichende Überlieferung in der Imitation der Lebensweise von Oberschichten; man blieb ihr auch diesmal treu, zumal der 1968 eingeführte „Neue ökonomische Mechanismus“ die Befriedigung materieller Bedürfnisse in zunehmendem Maße ermöglichte. Nachholbedarf, vielleicht besser gesagt „Nachholreiz“, gab es natürlich auf verschiedensten Gebieten.

So zum Beispiel, was das Essen betrifft. Die Eßlust ist beträchtlich.

Die Karikaturen der Blätter stellen mit Vorliebe dicke Menschen dar - dabei sind die Ungarn gar nicht dick, sondern - so meinen sie - nur ein wenig überfressen. Genauer: 40 Prozent der Bevölkerung (1978: 10,625.000 Einwohner) leiden unter den Folgen der Überernährung.

In Sachen Bekleidung tobt sich der Nachholreiz ebenso aus. Auch in Ungarn begeistert sich die Jugend natürlich für die Mode, und wenn diese zur Zeit die „künstlichen Lumpen“ diktiert, so fügt man sich eben. Obschon der Preis für solche Kleidungsstücke das Drei- und Vierfache dessen beträgt, was man für einen besseren Anzug auslegen muß.

Seit neuestem erfreuen sich Pelzmäntel einer großen Beliebtheit. Sie kosten mindestens 12.000 Forint (100 Forint = ca. 30 öS). Wer das bezahlen kann, wenn der Durchschnittsgehalt in Ungarn zwischen 2500 und 3000 Forint beträgt? Der Arbeiter und kleine Angestellte bestimmt nicht. Er denkt auch nicht daran. Das heißt: noch nicht.

Das „Schritthalten“ mit der Gesellschaft gilt als allgemeines Lebensideal; es bestimmt nicht allein das Streben von einstigen Mittellosen. Es erschöpft sich in der Selbstdarstellung von Erfolg und Leistung durch Besitz. Wohnung, höhere Konsumgüter, Lebensstil dienen der Schaustellung.

Der „Wagen“: Die Anschaffung eines Autos ist jetzt für einen großen Teil der Bevölkerung realisierbar. Er gehört jetzt schon längst nicht mehr zu den Luxusgütern, sondern zu den Artikeln, die „man haben muß“. 1975 befanden sich 550.548 Pkw in Privathand, heute fallen auf 1000 Einwohner bereits 39 Autos. Um einen Wagen kaufen zu können, wird hart gearbeitet und gespart.

Sogar dann, wenn man noch in Untermiete wohnen muß - wofür man öfter etwa 1500 Forint monatlich braucht. Der Vermieter allerdings zahlt im allgemeinen für die ganze Wohnung kaum mehr als 300 Forint Miete. Aber diese Art Mietwucher ist gesetzlich nicht zu bremsen. Die Mehrzahl solcher Vermieter sind allerdings Rentner, die nur eine lächerlich geringe Pension beziehen.

Für eine moderne Zwei- oder Dreizimmerwohnung, auf die man zumeist fünf bis sechs Jahre warten muß, müssen unter Umständen 500.000 Forint aufgewendet werden. (Jährlich entstehen 90.000 neue Wohnungen, aber 600.000 Zuteilungsanträge stehen dieser Leistung gegenüber.)

In diesen Zusammenhang gehört als wichtige Komponente des ungarischen Alltags der sogenannte „Submechanismus“. Er funktioniert neben dem gesetzlich gesicherten Konsumzwang, und es gibt genug Wünsche, die sich nur durch den „Submechanismus“, auch „Besorgen“ genannt, befriedigen lassen.

Schmiergelder spielen im Bereich der Dienstleistungen und des Kleinhandels eine große Rolle. Mit strafrechtlicher Verfolgung kommt man dem Unwesen nicht bei. Einerseits müßte man dann die Hälfte der Bevölkerung einsperren, anderseits würde man die Wurzel des Übels doch nicht erfassen: mangelhafte Ergebnisse der verantwortlichen Volkswirtschaft, nämlich Lücken in der Warenversorgung und ein nicht auf der Höhe seiner Aufgaben stehendes Dienstleistungsnetz. Nur durch Verbesserung dieser Mängel kann man auch die daraus hervorgehenden Korruptionserscheinungen bekämpfen.

Auch mit Appellen an das sozialistische Bewußtsein läßt sich nichts Durchgreifendes erreichen; praxisbezogene Argumente machen die Diskussion darüber wirkungslos. Der „Submechanismus“ ist eben manchmal wirklich die einzige Methode der Versorgung mit begehrten Gütern. Aber die öffentliche Moral fördert er gerade nicht.

Indes, es kündigt sich eine Abkehr vom „Nachholreiz“ und von der Zurschaustellung erworbener Güter an, somit also auch vom „Submechanismus“, dessen Funktionieren von unehrlichen Praktiken abhängt. In der Jugend entwickelt sich wieder Achtung vor dem Eigentum des anderen, ob es sich nun um eine Person oder um den Staat handelt. Vor zehn Jahren galt es noch als schick, „aus Spaß“ Parkanlagen oder öffentliche Einrichtungen zu verwüsten, aber auch, die privaten Bestände aus nachbarlichem und staatlichem Eigentum zu „ergänzen“.

Die Mehrzahl der Zwanzigjährigen betrachtet ein solches Verhalten heute mit Verachtung, ja mit Abscheu. Man begegnet wieder einer Haltung, die der Versuchung widersteht, Konsumgüter auch um den Preis von Korruption und unehrenhaften Praktiken nur deshalb zu erwerben, weil die anderen sie bereits besitzen.

Die Jugend des heutigen Ungarn war 1956, dem Schicksalsjahr des Aufstandes gegen die sowjetische Oberherrschaft, zum Teil noch nicht auf der Welt. Sie ist in einer von Angst freien Existenzatmosphäre aufgewachsen und braucht sich nicht zu rechtfertigen für Täten, die von den Älteren meist einander, den „Umständen“ oder gar „historischer Notwendigkeit“ angelastet werden.

Denn diese Jugend hat weder unter den Nazis noch unter den Stalinisten gedient oder gelitten, sie hat Kredit und Chancen. Mit der Erbschaft des Alltags muß sie freilich selbst fertig werden. Das gilt für alle, ob sie nun Parteimitglieder sind oder nicht. Die persönliche Bewährung hat mit Politik nichts zu tun. Ob es jugendlichem Idealismus gelingen wird, den Alltag unter dem Parteiregime zu verändern, wird die Zukunft zeigen.

(Gekürzt übernommen aus dem „Rheinischen Merkur“)

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