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Ungarn im Zeichen des Aufbruchs

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Die sowjetische Gleichschaltung Ostmitteleuropas ist seit langem Thema der Zeitgeschichte. Das Schicksal der katholischen Volksbewegungen Ungarns blieb bisher unbeachtet.

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Die sowjetische Gleichschaltung Ostmitteleuropas ist seit langem Thema der Zeitgeschichte. Das Schicksal der katholischen Volksbewegungen Ungarns blieb bisher unbeachtet.

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Die Sprengung des Katholizismus begann stets mit der gewaltsamen Auflösung gerade jener Gruppierungen, die im Geiste des christlichen Humanismus tatkräftig für die Beseitigung sozialer Mißstände kämpften. Die Enteignung kirchlicher Güter, der Klöster und Institutionen oder die Verstaatlichung von Druck- und Pressewesen, wie auch sämtlicher konfessioneller Schulen: all dies folgte erst später.

Bei den katholischen Volksbewegungen Ungarns sollte man auch wissen, daß sie keine Lieblinge der Amtskirche waren und von den Aktivisten des Nazismus hart bekämpft wurden. Obwohl es also auch an „Antifaschismus" nicht fehlte, nutzte das alles nichts.

Es ist rund 50 Jahre her, daß die wichtigsten Reformbewegungen, unabhängig voneinander, ihren Ursprung nahmen. Die eine bezeichnete sich schlicht „Arbeitergruppen der Kirchgemeinden",

auf ungarisch „Egyhäzközsegi Munkässzakosztälyok", abgekürzt EMSZO, Geburtsort Budapest. Die andere entstand in Sze-ged als katholische Bauernjugendbewegung, ungarisch meist unter der Abkürzung KALOT („Katolikus Agrärifjüsägi Lege-nyegyletek Orszägos Testülete") bekannt geworden.

Einige Jahre nach dem Erscheinen des päpstlichen Rundschreibens „Quadragesimo Anno" (QA) veranstaltete die „Actio Catholi-ca" von Budapest eine Vortragsreihe über die katholische Soziallehre. Unter den Referenten und Zuhörern fanden sich auch altbewährte Verfechter der christlichsozialen Idee, die wegen der Talfahrt ihrer traditionsreichen Organisation verbittert waren und nach neuen Wegen suchten. Sie schmiedeten Pläne für die Gründung katholischer Arbeitervereine.

Das geschah 1935, und es entstanden auch innerhalb einzelner Kirchgemeinden entsprechende Gruppierungen. Arbeiter und Gymnasialprofessoren waren es, die sich mit Unterstützung einiger Priester dabei engagierten.

Zur gleichen Zeit leisteten Dutzende von Jungakademikern und Studenten intensive Sozialarbeit in den Slums von Budapest. Die Initiative dazu ergriff ein junger Jesuit, Gyula Tornyos, der Anfang der dreißiger Jahre diese sogenannte Settlement-Bewe-gung auf freiwilliger Basis ins Leben gerufen hatte. Sie verdankte ihr Dasein zudem der „Rinasci-mento"-Strömung, die damals im Gefolge der QA in ganz Ungarn aufkam. Der Aktivistenkreis fand sich—parallel mit der praktischen Tätigkeit — ständig zu einem so-zio-ökonomischen Seminar zusammen und beobachtete auch den gesellschaftlichen Horizont. So hatte er über den Anlauf von KALOT in Szeged (1935) bereits Informationen, bevor im Frühjahr 1936 die Konturen von EMSZO sichtbar wurden.

Als im Herbst 1936 eine bescheidene Zentrale eingerichtet worden war, standen etwa zehn kleine Gruppen startbereit. Es entstanden Arbeiterseminare für Sozialwesen, Selbsthilfe, wie auch für mittel- und langristige Programmatik, Kulturarbeit und ähnliches. Neben der pausenlosen Kleinarbeit bedeutete die Mitwirkung des Jesuitenpaters Läszlö

Varga die wesentlichste Änderung. Drei Jahre nach den bescheidenen Anfängen existierten mehr als 50 Ortsgruppen mit je 100-200 Mitgliedern. Der ersten gemeinsamen Großversammlung wohnten 1938 schon 30.000 Arbeiter bei. Sie galt in vieler Hinsicht als Meilenstein des Aufstiegs.

Anläßlich dieser Selbstdarstellung wagte EMSZO, ein umfassendes Kurzprogramm für die Nation, „Magyar Cel" (Ziel aller Ungarn) genannt, zu veröffentlichen. Im folgenden Jahr erschien die Auslegung der Thesen über „nationale Unabhängigkeit", „sozialen Strukturwandel", „Gleichgewicht zwischen Freiheit und Autorität", eine „radikale Bodenreform" u. a. m.

Das Programm wurde unverzüglich auch von KALOT angenommen, womit der Bund zwi-

sehen den größten katholischen Volksbewegungen besiegelt war.

Die Katholische Bauernjugendbewegung, KALOT, entstand — ebenso wie EMSZO - vor 50 Jahren. Initiator und Organisator P. Jenö Kerkai suchte sich zuerst selbstlose, begeisterte Mitarbeiter, die hauptberuflich tätig sein konnten. Er fand für seine Bestrebungen vom Anfang an auch die finanzielle Lösung, ohne dafür in Abhängigkeit zu geraten.

Jedermann, der die kulturelle und soziale Leblosigkeit des ungarischen Dorfes gekannt hatte, traute kaum seinen Augen, als die Saat von KALOT zu sprießen begann. Jugendliche aus dem Bauernvolk bemühten sich gemeinsam darum, gesellschaftliche und wirtschaftliche Rückstände zu beseitigen und Bildungslücken zu schließen. Der geistige Hebel war die große Reformidee der Christlichen Solidarität, dessen wirksamste Werkstatt die Landvolkshochschule wurde.

Laut letzten zuverlässigen Angaben existierten acht Jahre nach Beginn (1943) im Lande etwa 3.000 ordnungsgemäß gegründete Ortsgruppen mit rund 500.000 Mitgliedern. Dieser Erfolg ist nur vor dem Hintergrund der damaligen halbfeudalen Verhältnisse in Ungarn zu erfassen. Durch fachliche und wirtschaftliche „Aufrüstung" sollte nicht nur die Bodenreform vorangetrieben, sondern auch der Ubergang zu einer Struktur von „freien Bauern in freien Genossenschaften" in die Wege geleitet werden.

Arbeitsrecht und Sozialpolitik entwickelten sich viel zu langsam. EMSZO und KALOT wollten die alltäglichen Lebensbedingungen der Massen radikal verbessern, fanden jedoch in den existieren-

den Gewerkschaften dafür keine tauglichen Partner. Es blieb nur eine Möglichkeit: neue Interessenvertretungen mühsam aufzubauen.

Nach jahrelangen „Vorübungen" in Szeged, gründeten Mitglieder von EMSZO und KALOT 1939 in Budapest den „Berufsverband Ungarischer Werktätiger" („Magyar Dolgozök Orszägos Hi-vatäszervezete"). Er gliederte sich auf in drei große Sektionen (Bauern und Landarbeiter, Bergbau-, Industrie- und Handelsarbeiter, so wie „Kopfarbeiter" beziehungsweise Geistesschaffende) und kannte konfessionell keine Schranken. Der harte Einsatz des Berufsverbandes brachte Früchte: nach vier bis fünf Jahren hatte er etwa 100.000 Mitglieder.

Zweimal in der Geschichte der Bewegungen entstanden gemein-

same Dachverbände mit politischer Zielsetzung. Zum erstenmal geschah dies auf Ermunterung des reformwilligen Ministerpräsidenten Paul Graf Teleki (1940), der eine gesellschaftspolitische Unterstützung gegen das verstaubte Establishment erwartete. Es paßte ins Konzept, die Front nannte sich „Ungarische Soziale Volksbewegung" („Magyar Szo-ciälis Nepmozgalom") und forderte tiefgreifende politische Reformen. Ihre öffentlichen Aktivitäten hörten nach dem plötzlichen Tode Telekis (1941) freilich auf, die Bindungen der Gemeinschaft blieben jedoch unverändert.

Zum zweiten Mal diente die Verkettung unter gemeinsamem Namen dem Uberlebensplan von EMSZO und KALOT nach Kriegsende. Der Begriff „Soziale Volksbewegung" blieb erhalten, doch mit dem Attribut „Katholisch".

1944 bereiteten sich die Leiter diverser Parteien auf die Nachkriegszeit vor. Sie sollte — so ihre Hoffnung — eine demokratische Entwicklung bringen. Einer geheimen Zusammenkunft wohnten auch Vertreter der „Katholischen Volksbewegung" bei und bewarben sich um die Mitgliedschaft im bestimmenden Gremium, aber es sollten nur echte Parteien angenommen werden. So formte sich das Spitzenkomitee zum Ausschuß der rasch und heimlich gegründeten „Christlich-Demokratischen Volkspartei" urrt. Danach erhielt diese ihren festen Sitz im interparteilichen Kollegium, wo plötzlich auch Vertreter der wur-

zellosen, doch zukunftsreichen Kommunistischen Partei (KP) auftauchten.

Auf den Beinamen „christlich" wurde später verzichtet, um jeden klerikalen Anstrich zu vermeiden. Die Demokratische Volkspartei („Demokrata Neppärt", Ank. DNP) verfügte also im Augenblick ihrer Gründung über 600.000 bis 700.000 sichere Wähler aus den Volksbewegungen.

Uber den Widerspruch, wie sehr sich totalitäre Machthaber um einen Dialog mit Christen bemühen und gleichzeitig mit allen Mitteln ihr Dasein untergraben, möchten wir uns heute keine Gedanken machen. Nur die schlichte Chronik der Ereignisse soll hier skizziert werden.

EMSZO: Nach genauer Observierung der örtlichen Gegebenheiten wurde das Zentralbüro Anfang Dezember 1944 von der Gestapo überrannt, durchsucht, und die vorhandenen fünf Mitarbeiter wurden in das Internie-rungslager Dachau verschleppt. Die damals versiegelten Türen öffneten sich niemals mehr. Die auf die Nazis folgenden Sowjets und ihre Statthalter verhinderten ebenfalls — auch gesetzlich — die Fortsetzung. Von den verschleppten Mitarbeitern überlebten drei.

KALOT wurde von den Nazis in Schußweite behalten, doch konnten seine wichtigsten Männer rechtzeitig untertauchen. Im Herbst 1945 feierte KALOT sein zehnjähriges Bestehen in einer Budapester Sporthalle und lud auch Delegierte des Komsomol, samt einheimischen Jungkommunisten, zum Festakt ein. Es war eine umstrittene Geste im Interesse des friedlichen Nebeneinander.

Einige Monate später ereignete sich ein Zwischenfall, der als „Mord an der Ringstraße" bekannt wurde. Die Medien verkündeten lautstark, daß auf dem The-resienring in Budapest ein KA-LOT-Mitglied einen Sowjetsoldaten erschossen hätte. Die öffentliche Meinung betrachtete den Fall als „konzipiert", wußte aber nicht, was er bezwecken sollte. Nach einigen Tagen, im Juli 1946, wurde es klar, als KALOT und weitere 220 nichtkommunistische Vereine vom Regime aufgelöst wurden.

Den „Berufsverband Ungarischer Werktätiger" ereilte ein ähnliches Schicksal wie EMSZO. In der Endphase des Nazismus wurden die Zentralräume von einem Elitekommando der ungarischen Nazis (Pfeilkreuzler) besetzt, elf Personen eingekerkert, der Verband offiziell aufgelöst.

Die „Demokratische Volkspartei" (DNP) wurde von der sowjetischen Besatzungsmacht und ihren einheimischen Exponenten nicht anerkannt. Als sie sich zur Wahl stellen konnte (1947), waren inzwischen alle ihre Gründervereine zur Strecke gebracht worden. Bei den letzten, relativ freien Wahlen in Ungarn bekam sie trotzdem die meisten Wählerstimmen. Ihre 60 Mandatsträger wurden jedoch als „gefährliche" Opposition auf Schritt und Tritt überwacht. Ein letztes Aufbäumen war ihr Kampf gegen die Verstaatlichung sämtlicher konfessioneller Schulen. Danach flüchtete der Parteichef Istvän Barankovics notgedrungen nach dem Westen. Die Zurückgebliebenen lösten „freiwillig" die DNP auf und stellten sich den bitteren Konsequenzen.

Der Autor war von Anfang an in den Volksbewegungen tätig, lebt seit 1971 in der Bundesrepublik Deutschland und ist Mitherausgeber von „Erasmus".

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