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Ungarn: Verschärfter Druck auf Opposition

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Die Vorfälle häufen sich, Zufall ist auszuschließen: Ungarn, bisher eines der „saubersten“ Länder in bezug auf Menschenrechte innerhalb des Ostblocks, steuert nun deutlich einen härteren Kurs gegen Oppositionelle.

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Die Vorfälle häufen sich, Zufall ist auszuschließen: Ungarn, bisher eines der „saubersten“ Länder in bezug auf Menschenrechte innerhalb des Ostblocks, steuert nun deutlich einen härteren Kurs gegen Oppositionelle.

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Seit 15. Jänner gibt es die einzige Samisdat-Buchhandlung im Warschauer Pakt nicht mehr. Sie hatte sich in der Galamb utca 3, im Zentrum Budapests, befunden und gehörte dem 37jährigen Dissidenten und Architekten Laszlo Rajk. Er hatte dort zwei Jahre lang — unbehindert von den Behörden — „Untergrundliteratur“ verkauft. Dutzende Broschüren mit zusammen mehr als 100.000 Maschinschreibseiten, primitiv vervielfältigt, fanden hier ihre Abnehmer.

Es handelte sich um politische Pamphlete, soziologische Unter-

suchungen, auch Belletristik, die von den staatlichen Verlagen abgelehnt worden war.

Nach Hausdurchsuchungen im Dezember durch den Staatssicherheitsdienst und vorübergehender Verhaftung Rajks und vier weiterer Gesinnungsgenossen (Gabor Demszky, Janos Nagy, Balint Nagy, Gezą Vadasz) wurde der Kündigungsbescheid für die Wohnung in der Galamb utca zugestellt.

Nach der Darstellung des Dissidenten Mihaly Vajda sieht die Lage der Oppositionellen in Kadars Reich so aus: „Die Opposition in Ungarn besteht aus Leuten, die einander ziemlich oft sehen, an Festen teilnehmen oder Vorträge organisieren— aber eine wirkliche Organisation hat es noch nie gegeben. Dafür fehlen einfach die

Rahmenbedingungen. Jeder hat auch einfach Angst vor Organisation, denn bei einer Bewegung, die so eng wie die in Ungarn ist, müßte diese automatisch sektiererisch werden.“

Der „harte Kern“ der politisch Andersdenkenden in Ungarn wird auf etwa 200 bis 300 Personen geschätzt. Er ist weitgehend isoliert, was Miklos Haraszti, sozusagen der „Guru“ der ungarischen Oppositionellen, unumwunden zugibt:

„Wir haben überhaupt keinen Kontakt zu den arbeitenden Schichten. Die Opposition in Ungarn ist keine politische Organisation, und politische Dimensionen erreicht sie keineswegs. Sie ist wahrscheinlich größer als die tschechische, aber bei weitem nicht so organisiert. Wir haben keinerlei Kontakt zur Arbeiterklasse.“

Ein weiteres wichtiges Faktum ist, daß die Mitglieder der unorganisierten Opposition ideologisch sozusagen recht buntschek- kig sind.

Ein großer Teil der Dissidenz

formuliert eine ;,linke“ Kritik am System des Kadarismus. Sie ist — historisch betrachtet — aus den Fußstapfen des marxistischen Philosophen Georg Lukacs gekommen und auch von den Theoretikern der „neuen Linken“ im Westen beeinflußt.

Ein anderer Teil der ungarischen Opposition ließe sich am ehesten mit der CSSR-Gruppe VONS oder dem ehemaligen polnischen ROPCO vergleichen. In Ungarn heißt diese Art von sozia

ler Selbsthilfegruppe mit indirekt politischer Stoßrichtung SZETA („Fonds zur Unterstützung der Armen“).

Einer der Gründer von SZETA, Balint Nagy, über Ziele und Aufgaben: „Die Leute, denen wir helfen, sind Arbeiter und Bauern, deren Einkommen unter dem offiziellen Mindestgehalt von 800 Forint liegt. Selbstverständlich haben wir keine großen finanziellen Hilfsquellen, sodaß unsere eigentliche Hilfe nicht materieller Art sein kann, sondern eher beratenden und informativen Charakter hat. Wir geben juristische, medizinische, technische und pädagogische Hilfe an Menschen, die das brauchen. So können sie für ein besseres Leben kämpfen und einen besseren Gebrauch der legalen und offiziellen Einrichtungen machen. Wir beraten zum Beispiel darüber, wie man unter Ausnützung der legalen Kanäle einen Platz in einer Mittel- oder Hochschule erhalten kann.“

Ein weiterer Teil der ungarischen Opposition ist sozusagen „kulturell“. Sie ist um die zwei im

Selbstverlag (Samisdat) herausgegebenen Zeitschriften „Besze- lö“ und „Kisugo“ sowie um den AB-Untergrund-Verlag gruppiert. Die in den Schubladen ruhenden Werke prominenter ungarischer Autoren (etwa das seit 1956 unveröffentlichte Gedicht von Gyula Illyes „Ein Satz zur Tyrannei“) werden hier veröffentlicht.

Glaubt man Haraszti, „haben heute 90 Prozent der im kulturellen Bereich Tätigen keinen Zweifel mehr, daß der Kadarismus seine mögliche Grenze, bis zu der er in Sachen Liberalisierung gehen kann, erreicht; was die kulturellen und politischen Freiheiten betrifft, hat er seine Grenzen erreicht.“

In letzter Zeit — seit September 1981 - formieren sich in der oppositionellen Szene Ungarns auch autonome „Friedensgruppen“, die wiederum Kontakte zu den christlichen Basisgruppen aufnehmen.

Sicherlich sind aber die christlichen Basis-Gruppen auch „Opposition“— allein schon dadurch, wie der Staat sie und ihre Mitglieder behandelt: In jüngster Zeit wurden vier junge Katholiken wegen Wehrdienstverweigerung zu Gefängnisstrafen verurteilt oder dienstlich benachteiligt. Drei Priester, die sich für die Wehrdienstverweigerung ausgesprochen hatten, wurden amtsenthoben.

Die sicherlich anwachsende Opposition in Ungarn mag Kadars Regime nun zu einem härteren Kurs veranlaßt haben.

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