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Ungewohnte Kraft

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Ist es tatsächlich erst ein Jahr her, daß Zehntausende glaub- ten, nur durch die Flucht dem Regime entkommen zu können, das sie seit 40 Jahren bedrückte? Zehn Monate, nachdem Mauer und Grenze gefallen sind, blickt kaum einer von denen, die da- mals geblieben sind zurück, auch wenn die Gegenwart durchaus nicht so ist, wie sie sie damals als Zukunft erhofft hatten. Zwei Wochen, bevor die bisherige DDR amtlich in der Bundesre- publik aufgeht, werden Spuren des Eigenbewußtseins merkbar, auf das man im Vorjahr verzich- ten zu können glaubte.

Es wirkt gespenstisch, wenn der Autofahrer bei Lauenburg durch die Befestigungen fährt, an denen DDR-Besucher noch im Vorjahr schikaniert wurden. Kein Mensch ist mehr zu sehen, die Fahrzeuge bremsen kaum ab, wenn sie passieren. Letzte Erin- nerung an eine Grenze, die nicht mehr da ist.

Und doch besteht sie noch im Denken und Fühlen der Men- schen, nicht zu verwundern nach 40 Jahren unterschiedlicher Be- einflussung. Das Gefühl des Überrolltwerdens ist nicht aus- zuschalten, wenn Betriebe von heute auf morgen geschlossen, ihre Mitarbeiter entlassen wer-

den. Bisher galt Arbeitsplatzgaran- tie, auch wenn sie mit einem niedri- geren Lebensstandard für alle be- zahlt werden mußte. Die Menschen sehen ein, daß es sein muß - aber die Form, wie es geschieht, stört sie.

Die alten Städte in Mecklenburg, der Altmark, in Thüringen, Grün- dungen der Hanse die einen, Sitze von Duodezfürsten die andern, hoffen auf ein neues Erwachen, das ihre zauberhaften Architekturen wieder einer kunstverständigen - und zahlungskräftigeren - Besu- cherschar präsentieren könnte. Die Fassaden sind schwarz vom Ruß der Jahrzehnte, viele Häuser seit Jahrzehnten verfallen - aber die romanischen und gotischen Kirchen von Bad Doberan, Bergen auf Fü- gen, Magdeburg, Naumburg sind gut in Stand gehalten, endlich wie- der zugänglich, auch für den Besu- cher aus dem Westen.

Für ihn stehen auch Privatquar- tiere in jeder Menge zur Verfügung - denn die Hotellerie außerhalb der Großstädte existiert praktisch

nicht. Von den drei Hotels der Hansestadt Wismar sind zwei ge- schlossen. Das dritte verfügt über „Fließwasser bei Regen". Der Por- tier aber zieht sofort die Adresse eines Privatquartiers hervor, das allen Anforderungen genügt. Der- selbe Vorgang wiederholt sich an beliebigem andern Ort. Kosten- punkt: zwischen 15 und 30 DM pro Kopf, je nachdem, ob man das Badezimmer der Familie mitbe- nutzt oder über eine eigene Dusche verfügen kann. „Vor der Wende" vermietete man an Betriebe oder Gewerkschaften - für 3,50 M-Ost.

Schon auf der Autobahn nach Salzburg fielen sie auf, die vielen Wagen mit DDR-Kennzeichen. Stinkende Trabis die einen, hoch- formatige BMWs, Peugeots, Audis die andern, schon mit neuem Kenn- zeichen, das sich nur durch die Zei- chen-Kombination von denen der BRD unterscheidet. Auf den west- deutschen Straßen sind es noch mehr. Die lange vermißte Freizü- gigkeit muß sich austoben. Den

Wunsch nach dem starken, neuen (West-)Auto erfüllt man sich als ersten, wenn man 15 Jahre ver- geblich auf den neuen Trabi ge- wartet hat.

Auch wenn die Fahrgewohn- heiten eben andere sind als im Westen. Solange nur ein Wart- burg, Wolken ausstoßend, sich bemüht, bei vier Prozent Stei- gung einen ebenso müden Tra- bant zu überholen und dabei Schlangen stärkerer Fahrzeuge hinter sich herzieht, kostet es nur die Nerven der andern. Wenn aber der eben erstandene Ford oder Opel mit all seiner ungewohnten Kraft auf den eigenen Landstra- ßen ausprobiert wird, kann es das Leben kosten. Die Zahl der Ver- kehrstoten ist in den vergange- nen Monaten um 25 Prozent ge- stiegen...

Die Umwälzungen des Jahres „1 n. W." - nach der Wende - würden genügen, um eine Gene- ration zu beschäftigen. Es wäre Illusion zu glauben, daß sie rei- bungslos bewältigt werden könn- ten. Es ist müßig zu fragen, wie wer es hätte besser machen kön- nen. Die deutsche Einheit ist trotz allem Tatsache, das Ende einer Diktatur ebenso. Das zählt. Auch wenn die Kehrseite der Medaille noch wenig glänzt.

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