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Universum des Menschen

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Ein Werk, das in Siebenstufenschritten von den Grundformen des Denkens über einen Panoramablick, umfassend die Erkenntnisse der Physik und Biologie, zu den Vergesellschaftungen des Lebendigen emporführt, von wo aus Hemmungen, Förderungen und Erfordernisse auf das Ich einwirken, sodaß nun Bausteine aus allen Wissensgebieten für die Welt des Menschen in großer Vollständigkeit vorliegen - ein solches Werk referieren wollen, heißt es ab- oder nachschreiben.

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Ein Werk, das in Siebenstufenschritten von den Grundformen des Denkens über einen Panoramablick, umfassend die Erkenntnisse der Physik und Biologie, zu den Vergesellschaftungen des Lebendigen emporführt, von wo aus Hemmungen, Förderungen und Erfordernisse auf das Ich einwirken, sodaß nun Bausteine aus allen Wissensgebieten für die Welt des Menschen in großer Vollständigkeit vorliegen - ein solches Werk referieren wollen, heißt es ab- oder nachschreiben.

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Hier hat ein unermüdlicher Leser Fakten und Zitate gesammelt und diese so produktiv durchgearbeitet, daß sie ihm in jedem Kapitel für neue Kombinationen im wechselnden Spannungsfeld zur Verfügung stehen. In der Polarität von empirischer Wissenschaft und den Gesichten innerer Schau den Gedankenstrom aufrechtzuerhalten, verlangt vom Autor, sich in beide Gebiete gründlichst einzuarbeiten. Entscheidend ist doch zuletzt, daß dieser Prozeß, die Ge-staltwerdung der Welt des Menschen, im Buch nicht bloß beschrieben, sondern in Stil und Gedankenführung modellartig vorgeführt wird. Das kann nur einer Persönlichkeit gelingen, die wie Herbert Kessler davon überzeugt ist, das Menschsein sei eine Bürgschaft für ein Bündnis mit der Transzendenz für das Gehaltensein durch das Umgreifende.

Der Ton abwägender Besinnung, einfühlsamer Analyse wandelt sich am Ende der siebengliedrigen Meditationskette in leidenschaftliche Betroffenheit eines Zeitzeugen persönlich durchlittener Geschichte. Es spricht die Sorge eines Denkers, welcher die europäischen und allmenschlichen Irrwege durchschaut und erkannt hat. Die sogenannten „Holzwege" mögen uns da noch als grüne Idyllen anmuten, sobald wir den Deponien gegenüberstehen, den „galligen Hirngespinsten", in die wir die Kultur und sogar schon Teile des Kosmos verwandelt haben.

Eines der Leitmotive ist die Auseinandersetzung der modernen wissenschaftlichen Erkenntnis mit traditionellen Denkmustern und Glaubensvorstellungen. Kann menschliche Erkenntniskraft zur unwandelbaren Wahrheit, also zum „Gedanken des Grundes" gelangen, wie Piaton meint? Liegt es im Wesen der Entwicklung, daß solche Besinnung auf den Urgrund, vergleichbar dem latenten Bild eines belichteten Fotostreifens immer detaillierter und reicher in der Schattierung hervortritt, sobald der „Entwickler Zeit" seinen Chemismus walten läßt? Oder verhält es sich ganz anders: Entspricht auch die Welt des Menschen weniger dem Modell einer natura natur,ata als einer natura natu-rans, einer Schöpfung in statu nascen-di? Infolge einer innovativen Auseinandersetzung mit den vorgegebenen Anlagen erschließt sich in jeder Schicht des unaufhörlichen Schöpfungsprozesses neuer Dimensionen, ein kategoriales Novum. Stehen wir also vor folgender Alternative? Hier eine vom göttlichen Geist mit Blitzlicht einmalig beleuchtete Fotoplatte, dort eine Entwicklung analog zum biologischen Bereich, in dem es dazu kommen kann, daß sich das Kriechtier dank „der Erfindung einer Feder plötzlich" (es kann Hunderttausende Jahre dauern) als Vogel in die Lüfte erhebt.

Vollzieht sich Geschichte als Variationsfolge, der bei aller origineller Detailwirkung doch ein unveränderliches Thema zugrundeliegt? Nichts Neues unter der Sonne, wenigstens nichts Neues in der Welt des inneren Menschen. Oder unterliegen wir in einem unabgeschlossenen und unab-schließbaren Prozeß dem Sog steigender Selbstorganisation?

Wie didaktisch ergiebig solche Gegenüberstellungen in einer Weltansicht des Polarismus auch sein mögen, so ist es doch das große Anliegen dieses Werkes, zu zeigen, wie das einander scheinbar Ausschließende hintergründig zur notwendigen Einheit des Gegensätzlichen führt. Das ganze Kampfarsenal an Polaritäten, von denen die Natur ja voll ist und denen der Menschengeist in eifriger Nachahmung der Natur eine beträchtliche Menge hinzuzufügen verstanden hat, erweist sich in Herbert Kesslers Analyse als Voraussetzung dafür, daß sich schließlich doch ein dynamisches Fließgleichgewicht einstellt. Aus einiger Distanz betrachtet erscheint es uns als harmonische Ganzheit.

So gibt denn auch das Noch-nie-Dagewesene, wie es sich in Kunst und Wissenschaft unaufhörlich ereignet, einen Pol zu dem ab, was von der Wissenschaft als unaufhellbares Geheimnis jeweils „übrig" bleibt und dem nun eben durch den Charakter des unveränderbaren Geheimnisses und des Numinosen der Rang eines Ewig-Bleibenden zukommt, wie ihn die Religionen zu vermitteln bestrebt sind. Zu deren Urbestand gehört, wenn auch von ihnen selber oft weniger hoch veranschlagt als die sogenannten Offenbarungen, die Fülle an empirischer Lebensweisheit, einen unverzichtbaren Anteil der Weltkultur.

Das ungeheuerliche Wachstum an Tatsachenwissen, wie es Herbert Kessler in geraffter und auch für den Laien verständlicher Form in 210 Abschnitten des Buches ausbreitet, ermöglicht es den Wissenschaften, ein immer besseres Abbild des Schöpfungsprozesses zu entwerfen. Dadurch überschreitet aber die ,.Naturbeherrschung" offensichtlich das von der Natur selber duldbare Maß. Zufolge der Fülle von Einzelwahrheiten entsteht eine neue Unsicherheit, deren Koordination immer schwieriger wird. Was die Menschen aber im Zweifelsfall verlangen, ist Sicherheit und nicht Wahrheit.

Der Drang nach Autoritäten entspringt dem Bedürfnis nach Sicherheit, welche die europäisch-abendländische, auf Empirie fußende Geisteshaltung nicht in demselben Maße bieten kann wie archaische Denkformen. Hier liegt die Wurzel des „Fundamentalismus", dem auch der Westen immer wieder anheimfällt und im Laufe dieses Jahrhunderts schon so oft aufgesessen ist, sofern man ihn in allen seinen Spielarten als Archaisierung und Rebarbarisierung der Künste und des öffentlichen Lebens betrachtet, so wie das schon Ortega y Gasset getan hat.

Für Herbert Kessler bedeutet es ein Anliegen, den Wechselbezügen von Wissen und Glauben, von Wirklichkeitsforschung und Überwirklichkeitsbewußtsein nachzugehen und dadurch Wege aufzuzeigen, wo sich Ansichten zu Einsichten verinnerlichen. Nur dann, wenn unsere Gesellschaft sich weiterhin pluralistisch entfaltet und das Konkurrenzverhalten nicht bloß bei der Erzeugung von Konsumartikeln zum Angelpunkt des Fortschritts macht, sondern auch in geistigem Bereich das Agon fordert, ohne freilich die Menschen fanatisch gegeneinander zu treiben, besteht die Hoffnung, daß die unvergleichlich großartigen Welten, welche die Wissenschaften entdeckt haben, auch auf breiter Basis zu innerer Erweckung führen.

Die Forschungserträge können durch Welterkenntnis und Weltdeutung jenes philosophische Staunen vertiefen, das nicht nur den Anfang aller Philosophie ausmacht. Es liegt den Meisterwerken der Ästhetik ebenso zugrunde wie den Erweckungs-kräften der Religion. Dieses Staunen für unseren heutigen Wissensstand geleistet zu haben, ist das große Verdienst von Herbert Kessler.

DIE WELT DES MENSCHEN. Von Herbert Kessler. Academia Verlag, St. Augustin 1992. 472 Seiten, öS 593,-.

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