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Unkalkulierbares Patt

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Als Premierminister Wilson den 10. Oktober 1974 zum Wahltag erklärte, war dies lediglich ein längst überfälliger Startschuß für einen — nunmehr offiziellen — Wahlkampf, der eigentlich schon seit den letzten Wahlen am 28. Februar dieses Jahres geführt worden war. Damals schaffte Labour mit 37,2 Prozent der Stimmen und 301 Mandaten (gegenüber 38,1

Prozent und 296 Mandaten der Konservativen) lediglich die relative Mehrheit und war gezwungen, eine Minderheitsregierung zu bilden.

Der Gund dafür ist das britische Mehrheitswahlsystem, das durchaus (wie im Februar 1974) bewirken kann, daß eine Partei zwar einen prozentuellen Vorsprung erringt, aber nicht unbedingt auch einen Vorsprung an Mandaten erhält. Besonders „ungerecht’ zeigt sich dieses Wahlsystem kleineren Parteien gegenüber: die Liberalen konnten bei den letzten Wahlen rund 20 Prozent der Stimmen für sich buchen, erhielten jedoch nur 20 Mandate. Anderseits haben lokale Persönlichkeiten und Wahlgemeinschaften wie in Schottland und Nordirland trotz ihrer gesamtpolitisch relativ geringen Bedeutung 23 Mandate errungen, da in jedem Wahlkreis jener Kandidat als gewählt gilt, der die meisten Stimmen auf sich vereinigen kann; es genügt also bereits eine relative Mehrheit, während die Stimmen der im Wahlkreis unterlegenen Kandidaten für seine Partei verfallen.

Verständlich, daß insbesondere die Liberalen an einer Änderung des Wahlrechts interessiert sind. Doch sind die Chancen für eine solche Reform nicht sehr groß, da die britische Bevölkerung dieses traditionelle Wahlsystem varzieht, weil es die Persönlichkeit des Mandatars sowie dessen enge Beziehung und Verant-

Wörtlichkeit im Wahlkreis unterstreicht.

Der allerdings immer wieder als ,,unschätzbarer Vorteil’ genannte Effekt des britischen Systems, daß es nämlich durch seine Konstruktion eindeutige und regierungsfähige Mehrheiten im Parlament garantiere, ist anläßlich der letzten Wahlen (erstmals nach 1945) nicht eingetreten, insbesondere als Folge des verstärkten Auftretens der Liberal Party, die das traditionelle Zweiparteiensystem deutlich in Frage stellte.

Eben dieses Majoritätswahlsystem ist auch der Grund dafür, daß derzeitige Meinungsumfragen nur eine sehr beschränkte Aussagekraft besitzen; denn trotz ausgeklügelter Analysen können lokale Trends und Präferenzen nicht berücksichtigt werden.

Kein Wunder auch, daß die zahlreichen Meinungsforschungsinstitute wie Gallup, National Opinion Poll, ORC, Harris, Marplan und Business Decisions, die regelmäßig politische Umfragen veranstalten, immer wieder zu verschiedenen Ergebnissen gelangen. Das klassische Beispiel für das Versagen der Institute waren die Wahlen im Jahre 1970, als alle genannten Firmen mit Ausnahme von ORC einen Sieg Labours vorhersagten, tatsächlich aber Heath mit seiner Mannschaft siegreich büeb. Die durchschnittliche Abweichung der Umfragen vom Wahlergebnis betrug damals nicht weniger als 6,6 Prozent. Im Februar 1974 haben zwar alle „Polls’ (außer Business Decisions) einen prozentuellen Sieg der Konservativen vorausgesagt — daß jedoch die Labour Party als mandatsstärk- ste Partei hervorgehen würde, war wiederum nicht vorherzusehen.

Trotz dieser Vorbehalte bleiben Meinungsumfragen die einzige Mög lichkeit, etwaige Trends annäherungsweise vorherzusagen. Gallup (das sich 1970 gar um sieben Prozent geirrt hatte) schließt aus einer Umfrage, die Mitte September durch geführt wurde, auf eine klare Überlegenheit von Labour (42 Prozent) gegenüber den Konservativen (34 Prozent) und den Liberalen (20,5 Prozent); die restlichen 3,5 Prozent entfallen auf regionale Wahlparteien. Was die Prominenz der Parteiführer betrifft, so liegt Heath mit nur 26 Prozent besonders schlecht; mit Wilson sind immerhin 42 Prozent zufrieden, während 56 Prozent der Befragten überraschend dem Parteichef der Liberalen, Jeremy Thorpe, attestieren, daß er sich als guter Führer der Liberalen erwiesen habe.

Eine Umfrage des NOP (National Opinion Poll), die jedoch in aller Eile durchgeführt wurde, zeigt wiederum die Konservativen knapp vorne. Kein Wunder, daß alle drei Parteiführer angesichts der Uneinigkeit und Ungenauigkeit der Ergebnisse Zuversicht ausstrahlen und mit großem Aufwand in den Wahlkampf eingestiegen sind. Nun, an Wahlkampf- themen gibt es ja auch wahrlich keinen Mangel.

An erster Stelle steht verständlicherweise die Inflation (derzeit rund 20 Prozent!) sowie die wirtschaftliche Situation in Großbritannien, das die gefährlichste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg durchmacht.

Wilson präsentiert den Wählern einen „Social Compact’ — einen Sozialpakt, den er mit den mächtigen Gewerkschaften ausgehandelt hat und der auf dem Gewerkschaftskongreß von den gemäßigten Gewerkschaften gebilligt wurde. Die — unverbindliche — Vereinbarung sieht als Gegenleistung für eine Politik der „sozialen Gerechtigkeit’ seitens der Regierung Zurückhaltung der Gewerkschaften bei Lohnforderungen vor.

Die Effizienz der Abmachung wird jedoch nicht nur vom politischen Gegner stark angezweifelt. Denn einerseits der Umstand, daß radikale Gewerkschaftsführer gegen den Compact gestimmt haben, anderseits auch die Erfahrung, daß radikale Elemente in Gewerkschaften mit einer gemäßigten Führungsgarnitur die Politik von der Basis her torpedieren, läßt für die Lohnrunde im Herbst Böses ahnėn. Ein Umstand, der Wilson bewogen haben dürfte, den Wahltag noch vor dieser Lohnrunde anzusetzen.

Daneben haben die anderen Wahlversprechen der Labour Party für jeden Wähler etwas bereit: Verstaatlichung von Bauland, Reform der Alterspensionen, Dezentralisierung der Behörden, Erweiterung der Invalidenfürsorge, Verbesserung und Ausbau des Konsumentenschutzes, Verbesserung der Abfallverwertung.

Die Konservativen und die Liberalen haben ihre Wahlkämpfe auf die Sammlung zur „National Unity’ angelegt.

Das Wahlmanifest der Konservativen, das infolge einer Indiskretion vorzeitig veröffentlicht wurde, enthält die bemerkenswerte Erklärung, daß die Konservativen im Falle eines Sieges auch die Führer der anderen

Parteien und deir Interessensverbände zu Konsultationen einladen würden. Diese Erklärung ist nicht nur eine Verbeugung vor dem spürbaren Wählerwunsch nach Stabilität und Konzentration der politischen Kräfte zwecks Verbesserung der wirtschaftlichen Situation, sondern auch ein verstecktes Verhandlungsangebot an die mächtigen Gewerkschaften, die Heath in der Vergangenheit so schwer zu schaffen gemacht und letztlich auch seine Abwahl verursacht haben. Zum Unterschied von Labour, die eine Koalition mit den Liberalen rundweg abgelehnt hat, hält Heath hier eine Tür offen.

Die Liberalen haben auf ihrer kürzlichen Jahreskonferenz ein eindeutiges Bekenntnis zu Europa abgegeben und hier vor allem eüie Abgrenzung gegenüber den Konservativen versucht, da die EG-Politik Wilsons ohnehin schon lange unglaubwürdig geworden ist („Das einzig Konsequente an seiner Europapolitik ist seine Inkonsequenz’).

Obwohl zahlreiche Delegierte ihre

Abneigung gegen eine Koalition mit jeder Großpartei betonten, zeigte sich dennoch deutlich, daß die Abneigung gegen eine Koalition der Liberalen mit Labour geringer ist als mit den Konservativen. Insbesondere hat Thorpe durchblicken lassen, daß eine Koalition mit den beiden derzeitigen Führern der großen Parteien nicht in Frage komme. Für den Fall einer Pattstellung ist daher unter Umständen mit personellen Konsequenzen zu rechnen, da insbesondere Heath als Premier eher ein Mann der Konfrontation denn ein Mann des Ausgleichs war.

Fest steht, daß mit der Renaissance der Liberalen nicht nur das traditionelle Zweiparteiensystem in Frage gestellt wurde, sonden auch das politische Klima zusehends farbiger wird.

Wer den wettfreudigen Briten vertrauen möchte, nehme zur Kenntnis: Labour ist mit 1 zu 2 Favorit, gefolgt von den Konservativen (6 zu 4); die Liberalen sind mit 150 zu 1 Außenseiter…

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