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Unsterbliche Schönheit in Bedrängnis

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Wer Indien besucht, sollte sich eine Fahrt mit der Eisenbahn nicht entgehen lassen. Und sei es nur, um für eine Weile dem Lärm einer Großstadt zu entfliehen. Eine Fahrt von Delhi zum berühmten Taj Mahal in Agra ist für ein solches Vorhaben eine gute Gelegenheit. Hinter der Idylle des Landlebens und der Schönheit der Natur verbirgt sich aber auch viel Widersprüchliches.

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Wer Indien besucht, sollte sich eine Fahrt mit der Eisenbahn nicht entgehen lassen. Und sei es nur, um für eine Weile dem Lärm einer Großstadt zu entfliehen. Eine Fahrt von Delhi zum berühmten Taj Mahal in Agra ist für ein solches Vorhaben eine gute Gelegenheit. Hinter der Idylle des Landlebens und der Schönheit der Natur verbirgt sich aber auch viel Widersprüchliches.

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Voller Erwartung hat man sich in einem der unbequemen Zugsabteile niedergelassen, hintereinem schmuddeligen Fenster mit den ungewohnten Gitterstäben davor. Ob sich wohl etwas von dem Zauber Indiens einstellt, den die Reisenden vor 50 Jahren und mehr in ihren Tagebüchern so faszinierend beschrieben haben?

Die Dörfer entlang der Linie, die mich zum Taj Mahal bringen sollen, wirken sehr idyllisch: Mensch und Tier friedlich vereint. Reisfelder, Palmen, üppiges Grün, die Frauen in den bunten Saris, Wasserbüffel und halbnackte Kinder im Teich vor dem Dorf badend, Kühe, niedrige Hütten, kaum Maschinen, aber auch keine Sanitäranlagen.

Während ein anonymes Dorf nach dem anderen vorüberziehen, verliert man bei brütender Hitze allmählich das Gefühl für die Zeit. Hier irgendwo, auf halber Strecke zwischen Delhi und Agra, muß wohl das Dorf Mehrana liegen, das durch die Medien traurige Publizität erlangt hat. Im Frühjahr 1991 kam von hier eine schok-kierende Meldung. Drei junge Leute hingen im Morgengrauen an einem Baum des Dorfes. Ermordet von Verwandten und Nachbarn. Die Opfer waren die 16jährige Roshini, und Brijendra, ihr 18 Jahre alter Geliebter. Ram Kishen, der 22 Jahre alte Freund und Helfer, war auch dabei. Die drei hatten in den Augen der Dorfbewohner etwas Fürchterliches getan; sie hatten das Kastentabu gebrochen. Roshini stammte aus einer höheren Kaste, aber die beiden jungen Männer waren Yadavs, Angehörige einer Gruppe von Kastenlosen. „Harijans", „Kinder Gottes", wie sie Gandhi genannt hätte. Sie liebten einander und büßten dafür...

Immer wieder wird zwar behauptet, in Indien seien die Kasten abgeschafft. Aber solche Geschichten wie diese sind keine Einzelfälle. Das Kastenwesen dominiert - besonders auf dem Land - eisern das Leben der

Hindus (siehe Kasten). Die Väter der indischen Verfassung haben noch nicht gesiegt. Die Politiker wollen heute Kastenlose nicht nur durch gesetzliche Maßnahmen, sondern durch besondere Vergünstigungen und Quotensysteme fördern. So holt sie die Regierung in den Staatsdienst und in die parlamentarische Vertretung auf Unionsebene. Auch Kastenlose können heute Beamte, feine Herren und gut gekleidet sein; ihre Kinder werden vom Schulgeld befreit, mit Stipendien ausgestattet. Das ländliche Indien mit seinen Tausenden Dörfern ist von solchen Veränderungen hingegen noch weit entfernt. Trotzdem wäre es falsch und voreilig, den Stab über dieses, den meisten Europäern unverständlich erscheinende Kastenwesen zu brechen. Erstens hält es die soziale Ordnung dieses Subkontinents seit vielen Jahrhunderten aufrecht und stabil. Und zweitens ist nicht sicher, was an die Stelle des alten Systems treten könnte.Westliche Wertvorstellungen? Kaste und Familie bestimmen Leben und Sterben.

Die verwirrenden Gedanken verfliegen nicht, bis es sich dann vor den eigenen Augen darbietet: Das sagenhafte Taj Mahal, Zeichen der unsterblichen Liebe des Mogulenherrschers Shah Jahan (1627-1658). Er ließ hier, an den Ufern des Yamuna, für seine

Lieblingsfrau Mumtaz Mahal das weltberühmte Mausoleum als Denkmal einer lebenslangen Zuneigung errichten. 19 Jahre lang war sie seine Lieblingsfrau. Sie schenkte ihm 14 Kinder und starb, 38jährig bei ihrer letzten Geburt.

Das Taj ist mit seinem weißen Marmor, den perfekten Proportionen und der Spiegelung im Wasserkanal davor bestechend schön. Im Wechsel von Licht und Jahreszeit sieht es immer wieder anders aus. Stundenlang kann man davor sitzen und es betrachten. Und selbst dann ist nicht klar, soll man dieses Juwel vergangener Glanzzeiten langweilig finden in seiner Vollkommenheit oder hemmungslos bewundern?

Vielleicht stellt sich ?inc solche Frage aber bald gar nicht mehr. Industrielle Schadstoffe setzen dem Taj bedrohlich zu. Es heißt, der weiße Marmor verfärbe sich bereits gelblich, Risse zerstören das vollkommene Bauwerk. Zwar sind die Schäden mit freiem Auge noch nicht zu sehen, aber leicht vorstellbar. Denn Agra ist ein lärmender Industrieort, über der

Stadt hängt ständig ein Dunst von ungebremsten Abgasen und Schadstoffen. Eisengießereien, Kohlekraftwerke und das tägliche Verkehrschaos machen das Atmen schwer.Trotzdem sind sich die Experten über die Verursacher der Schäden nicht ganz einig. Es könnten auch die Sandstürme der Thar-Wüste sein.

Derzeit kann man noch hier sitzen, die Gedanken Kreise ziehen lassen und den beiden weißen Kühen zusehen. Vor ein kleines Gefährt gespannt, einem Rasenmäher ähnlich, trotten sie im Park vor dem Taj gemählich ihre Runden. Auch sie kann nichts so einfach aus der Ruhe bringen.

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